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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut
Autoren: Jochen Senf
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Sie schien meine Befürchtung zu spüren. Sie hatte plötzlich einen leicht spöttischen Blick, bildete ich mir zumindest ein. »Ich stelle Ihnen auch meinen Sohn vor!« Jetzt konnte ich kaum mehr ablehnen.
    Ihr Handy klingelte. Sie nahm ab.
    »Ja?« Das Gespräch war nur kurz. Sie legte auf. »Verflucht. Ich hab’ noch einen Termin. Hab’ ich glatt vergessen. Holen wir nach. Den Fronsac hole ich morgen.«
    Sie eilte aus der Weinhandlung. Die plötzliche Stille war angenehm. Wir leerten noch eine halbe Flasche St. Estèphe. Schweigsam. Nur das Schlürfen war zu hören. »Was macht die eigentlich?«, fragte ich Claus schließlich.
    »Journalistin beim Fernsehen. Kritikerin. Alles Mögliche. Coaching. Kommunikationskunst. Ach ja, Immobilien. Die quasselt dich in Grund und Boden.«
    »Hast du den Sohn schon mal gesehen?«
    »Nee. Noch nie.«
    »Danke, Claus. Grüß Gila.«
    »Mach ich.« Ich ging.
    Am Tag danach war ich schon frühzeitig, bevor der Baulärm begann, im ›Dollinger‹, um dort zu frühstücken, als Frau Stadl überraschenderweise auftauchte. Hans, der Wirt, schleppte gerade von Salzwasser triefende Holzkisten mit frischen Austern und Algen in den Keller.
      »Wie das Meer riecht!«, rief Frau Stadl und stapfte durch die Pfützen direkt auf mich zu. »Habe ich schon lange nicht mehr gerochen!« Sie setzte sich ohne zu fragen zu mir, obwohl ich eine aufgeschlagene Zeitung in der Hand hielt. Das störte sie nicht im Mindesten. Doris servierte mir gerade das Dänische Frühstück. Kräuterquark mit frischem Lachs auf Schwarzbrot, reich garniert mit Gürkchen, Tomaten und Zwiebelringen.
    »Nehme ich auch«, sagte Frau Stadl und fingerte mir ein Gürkchen mit einem »Darf ich doch?« vom Teller. Ich fühlte mich empfindlich in meinem Ritual gestört. Kaffee, Zeitung, lesen, ungestört sein. Deshalb ging ich immer vor der eigentlichen Öffnungszeit ins fast leere ›Dollinger‹, um mich ganz entspannt auf den kommenden Tag vorzubereiten. Ich liebte es, durch die Fenster auf den Stutti zu schauen, die Bäume, die Bänke, die Menschen, die vorbeiliefen. Frau Stadl krallte sich noch eins meiner Gürkchen, tunkte es in den Quark, leckte sich dann die Finger ab. Sie überschritt eindeutig die Grenze meines Tellerrandes.
    »Sie können sich doch zumindest tagsüber bei mir aufhalten, solange Sie diesen Lärm haben.« Ich schaute sie überrascht an. Mit diesem Angebot hatte ich nicht gerechnet. »Meine Wohnung ist riesig. Zum sich darin Verlieren.«
    Ich wusste nicht so recht, was ich von der Aussicht, bei dieser bedrängenden Frau, wenn auch nur für Stunden zu wohnen, halten sollte. Ich dachte an den wortreichen letzten Abend. Jetzt angelte sie sich einen Zwiebelring von meinem Teller. Ich selbst hatte noch kein Häppchen gegessen. Am liebsten hätte ich ihr den ganzen Teller rübergeschoben und auf den neuen gewartet. Stattdessen rückte ich den Teller etwas beiseite. Das störte sie nicht. Dem Zwiebelring folgte ein Stück Tomate.
    »Aber ich störe Sie doch bestimmt in Ihrer Wohnung.« Was für einen Unfug redete ich! Sie störte mich. Wilderte auf meinem Teller herum. › Lassen Sie die Finger von meinem Essen! ‹ , hätte ich donnern sollen.
    »Ich bin eine Woche weg. Mein Sohn ist in der Wohnung. Der ist ein bisschen schwierig, aber lieb.«
    Doris servierte Frau Stadl das Dänische Frühstück. Kaum stand der Teller, angelte ich ohne Umschweife meinen Zwiebelring zurück. Es waren immer zu wenige Zwiebelringe. Ich hatte es schon mehrmals moniert. Aber darum ging es gar nicht. Ein alberner, kleiner Grenzkrieg tobte. »Machen Sie das immer so?«
    »Wie meinen Sie das?« Ich nahm mir einen zweiten Zwiebelring von ihr. Sie runzelte die Augenbrauen und schaute auf meinen Teller. Sie beherrschte sich. Keine weitere Attacke ihrerseits folgte. Wir aßen schweigsam. Schließlich grinste sie mich an. »Schmeckt’s?«
    Sie wusste genau, worum es bei diesem Zwiebelringkrieg gegangen war. Ich befand mich plötzlich in einer ganz intimen Situation von Besitzergreifung und Abwehr mit einer Frau, die ich nur ganz flüchtig kannte. Sie drängelte. »Haben Sie es sich überlegt?«
    Ich zögerte. Die Aussicht auf eine Woche Ruhe im Vorderhaus ohne Lärm war verlockend. Mit einem Sprung über den Innenhof war ich in meiner Wohnung. Nachts ohnehin. Da war kein Baulärm. Frau Stadl selbst war für eine Woche nicht da. Was also riskierte ich?
    »In zwei Stunden geht mein Flieger.« Wieso bot sie mir so ohne Weiteres ihre
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