Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Autoren: Friedrich A. Kittler
Vom Netzwerk:
Die Stadt ist ein Medium
    So wie wir gewohnt, wo nicht unterworfen sind, Energie in verschiedenen Formen bei uns daheim zu empfangen, so werden wir es sehr einfach finden, dort auch jene überschnellen Veränderungen oder Schwingungen zu erhalten oder zu empfangen, aus denen unsere Sinnesorgane, die sie aufnehmen oder integrieren, alles machen, was wir wissen. Ich weiß nicht, ob Philosophen je von einer Gesellschaft zur häuslichen Ausbreitung von Sinneswirklichkeit geträumt haben.
    Paul Valéry
    HAUPTSTADT. Der Name sagt es schon: Hauptstädte oder Kapitalen sind vom menschlichen Körper her benannt. Der Staat (seit den Griechen) heißt Organismus, die Hauptstadt sein Kopf. Sie gehört folglich zu einem Chef, dessen Name ja wieder nur Kopf besagt.
    Historisch wird diese Gleichung wahr gewesen sein. Was Mumford die vorgeschichtliche Implosion von Dörfern und Landstrichen zur Stadt nannte, folgte nach seinen Belegen nicht etwa aus ökonomischen Notwendigkeiten, sondern aus dem Waffenmonopol eines Fürsten. Platon als Gesetzgeber einer idealen Stadt beschränkte ihre Größe auf die Reichweite einer Stimme, die Gesetze oder Befehle gab.
    Und lange Zeit – von den prähistorischen Städtegründungen, mit denen Hochkultur oder Geschichte überhaupt begann, bis hin zu den barocken Residenzstädten – blieb der militärisch-administrative Kopf architektonisch erkennbar: in Burgberg oder Akropolis, Zitadelle oder Schloß. Erst mit der ersten industriellen Revolution soll eine Wucherung eingesetzt haben, deren Geschwüre in Mumfords Augen dann das Gesicht der Stadt auflösten und im Namen reiner Technologie über die ökologischen Notwendigkeiten des Zusammenlebens hinweggingen: Megalopolis.
    Nur ist bei Beschreibungen eines Abwegs womöglich die Beschreibung selber auf Abwegen. An der kenntlichen Zentralität eines Kopfes festzuhalten, heißt vielleicht bloß, daß auch beim Konzept der Hauptstadt (wie nach Foucaults These »im politischen Denken und in der politischen Analyse«) »der Kopf des Königsnoch immer nicht gerollt ist«. Die Monarchien, denen Europa seine meisten Hauptstädte dankt, hätten über die Architektur hinaus auch im Kopf der Theorie selber für ihr Nachleben gesorgt. Und wenn noch »der Mensch« mit seinen ökologischen Notwendigkeiten nur ein Miniaturnachbild jenes Fürsten wäre, käme eine Möglichkeit in Sicht, Haupt und Hauptstadt aus der Technologie und nicht umgekehrt zu entziffern.
    TECHNOLOGIE. Was Passantenaugen wie Wucherung oder Entropie vorkommt, ist Technologie und das heißt Information. Seitdem Städte nicht mehr vom Münsterturm oder Schloß aus zu überblicken und nicht mehr von den Mauern oder Befestigungen eingeschlossen sind, durchzieht und verschaltet sie ein Netz aus lauter Netzen – auch und gerade an Rändern, Tangenten und Fransen. Gleichviel, ob diese Netze Information oder Energie übertragen, also Telephon, Radio, Fernsehen oder Wasserversorgung, Elektrizität, Autobahn heißen – Information sind sie allemal. (Schon weil jeder moderne Energiefluß parallel dazu ein Steuernetz braucht.) Aber auch in jenen unvordenklichen Zeiten, als Energie noch Lastenträger wie Sindbad und Information Boten wie bei Marathon brauchte, gab es diese Netze nicht nicht. Sie waren nur nicht alle gebaut oder implementiert, wie der Technikerjargon sagt. Die dürftige Spur eines Eselpfades im Gestein ersetzte Schienen oder Autobahnen, die nicht minder flüchtige des Boten Kupfer- oder Glasfaserkabel.
    NETZE. Deshalb liegen auf der Kehrseite der Bauten, im Offenen der Stadt ihre Strukturen, die allemal Netze sind.
    Um den Weg aus einem Labyrinth (wie die Griechen es aus den verfallenen Stadtgrundrissen von Knossos, Phaistos oder Gournia abgelesen haben sollen) zu rekonstruieren, tut man gut, statt der sichtbar verbundenen Mauern gerade das Umgekehrte: die unsichtbaren Verbindungen zwischen Wegen und Toren aufzuzeichnen. Woraufhin (im mathematischen Wortsinn) ein Baum entsteht, dessen Gabelungen die Sackgassen von den Ausgängen kenntlich unterscheiden.
    Abbildung 1: Plan der minoischen Stadt Gournia. Aus: Geburt einer Hauptstadt am Horizont , hg. von Dietmar Steiner, Georg Schöllhammer, Gregor Eichinger, Christian Knechtl, Wien 1988, S. 510 f..
    Oder man konstruiert wie Claude Shannon als Chefmathematiker der Bell Telephone Labs eine mechanische Maus, deren Schnauze das Labyrinth nach der Methode von Versuch und Irrtum durchstöbert. Woraufhin die Maus imstande wäre, Stadtplanungen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher