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Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Autoren: Friedrich A. Kittler
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rechtzeitig zu besetzen. Ihre Zentralität ist eine abhängige Variable von Medienfunktionen und nicht umgekehrt.
    Am 9. April 1809 erklärte Kaiser Franz II. Frankreich den Krieg. Tags darauf überschritten seine patriotisch mobilisierten Armeen die Inngrenze. Ein Sendschreiben an den bayerischen König mit dem Befehl, das Bündnis mit Napoleon zu kündigen, blieb vergebens; also marschierte die österreichische Kriegsenergie selber der Briefinformation nach und rückte gegen München vor. König Max floh, während der französische Gesandte gerade noch einen Kurier nach Straßburg, wo Napoleons Generalstabschef Berthier Quartier machte, absetzen konnte.
    Alle Grenzstädte Frankreichs aber waren seit den 14 selbständigen Revolutionsarmeen von 1794 mit der Hauptstadt verschaltet: durch optische Telegraphie, das erste Schnellübertragungsmedium der Geschichte. Also konnte Berthier Telegramme an Napoleon absetzen, Napoleon aus Paris Telegramme an seine Armeen, bis die Franzosen in der Rekordgeschwindigkeit von zwei Wochen München entsetzt hatten. Was den König Bayerns dazu bewog, seine Akademie mit der Entwicklung eines noch verbesserten Telegraphen, des elektrischen, zu beauftragen (Oberliesen).
    Die Kriegsmaschine Napoleons indessen marschierte weiter nach Wagram und verkabelte Europa mit optischen Telegraphen (ganz wie einst die römische Staatspost mit Pferderelaisstationen). Ausgerechnet Kirchtürme, deren Glocken jahrhundertelang den einzigen Kanal zwischen Macht und Leuten gelegt hatten, wurden umfunktioniert. »An der Nordseite des Domkirchenturms« von St. Pölten installierte die Besatzungsarmee »eine ›telegraphische Maschine‹, welche zur militärischen Benachrichtigungslinie von Wien nach Straßburg gehörte. Diese bestand aus Militärposten, welche in Stationen von 1 bis 2 Stunden Entfernung auf Türmen und Anhöhen aufgestellt waren und mittels 3 Fahnen von blauer, roter und weißer Farbe sich Signale mitteilten, deren Bedeutung nur den an den beiden Endpunkten der Linie befindlichen ›Direktoren‹ bekannt waren« (Herrmann). Während also eine sehr funktionale Trikolore über Österreichs Städten herrschte, entdeckten feindliche Aufklärungsabteilungen auch Österreichs Land, das Landkarten seit der Peutingeriana ja mehr oder weniger ignorierten. Marschall Marmont aber entsendete eine Vorausabteilung von Kavallerieoffizieren, die auch und gerade Berge, Täler und Sümpfe rund um St. Pölten kartographisch erfaßten, die Weglosigkeit selber mithin für eine neue Schlachtentechnik entschlüsselten.
    Seitdem können Armeen Städte oder gar Hauptstädte links liegen lassen. Über Mittelgebirge, Sumpfflächen oder Wüstensand fällt der Blitzkrieg seinen Feinden in den Rücken, um nicht mehr Städte, sondern Räume einzukesseln. Voraussetzung sind nur genaueste Landkarten, wie sie anfangs Staatsgeheimnis und nach 1800 ein Monopol der Generalstabsarbeit in Frankreich, Preußen und Österreich waren.
    Erst der totale Luftkrieg seit 1942 statuiert wieder urbane Zentren. Modul der Zerstörbarkeit ist kein Mensch mehr, sondern fürPhosphorbomben eine Stadt, für Uranbomben eine Großstadt, für Wasserstoffbomben schließlich Megalopolis. Die weiten Grünflächen und breiten Ausfallstraßen bundesdeutscher Städte sind dagegen ein schwacher Trost, auch wenn sie aus den Plänen der Weltkriegsarchitektur hervorgegangen sind, dem nächsten Bombenterror vorzubeugen (Durth).
    Die »unsichtbare Stadt«, mit der Mumfords Stadtweltgeschichte endet, besteht also nicht nur in Informationstechnologien, die masselos und lichtschnell arbeiten. Die Computerbefehle zur Auslöschung liegen abrufbereit. »Dies ist das letzte und schlimmste Vermächtnis der Zitadelle (lies: Pentagon oder Kreml) an die Kultur der Städte.«
Literatur
    Alexander, Christopher, »A City is not a Tree«, in: Design Magazine (1965).
    Benjamin, Walter, Das Passagen-Werk , in: Schriften , Bd. V, Frankfurt/M. 1982.
    Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, Capitalisme et Schizophrénie: Mille plateaux , Paris 1980.
    Durth, Werner, Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1925-1970 , Braunschweig, Wiesbaden 1987.
    Eliot, Thomas Stearns, The Waste Land , in: Selected Poems , London 1954.
    Enzensberger, Hans Magnus, Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts , Frankfurt/M. 1975.
    Euringer, Richard, Chronik einer deutschen Wandlung, 1925-1935 , Hamburg 1936.
    Foucault, Michel, Sexualität und Wahrheit , Bd. 1:
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