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Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Autoren: Friedrich A. Kittler
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jetzt ausgerechnet ein Architekt in seiner Freizeit auf diese geniale Idee? Michael Ventris war im Krieg Navigator bei der Royal Air Force und hat dechiffriert – und zwar deutsche Wehrmachtsfunksprüche. Das war eine Sache, die gleichzeitig Alan Turing machte, der, indem er den deutschen Wehrmachtscode mit der Enigma knackte, den Zweiten Weltkrieg mit entschieden hat. Turing unterlegte den deutschen Funksprüchen die Eigennamen deutscher Generäle und knackte sie auf diese Weise automatisch. So hängen Computer und Kreta wunderbar zusammen. Turing mußte dann 1954 in einen vergifteten Apfel beißen und war auf der Stelle tot. Und Michael Ventris hatte 1956 allein im Auto einen merkwürdigen Unfall – auf einer leeren Straße frühmorgens in einem Vorort von London. Erst 1974 ist freigegeben worden, daß automatische Entzifferungsverfahren am Sieg gegen Hitler beteiligt waren.
    Platon läßt Sokrates im »Phaidros« sagen: Es gab einmal eine Zeit, da gab es die Musen noch gar nicht. Und als sie dann geboren wurden und auf die Welt kamen, sind manche Männer so begeistert gewesen, daß sie nur noch gesungen haben und das Essen und Trinken vergaßen: Und so wurden sie Zikaden. Das heißt, wir wissen bis zu dieser Stelle bei Platon, daß die Schrift ein Geschenk und ein Wunder ist und irgendwann geschieht – und zwar als Musengeschenk.
    Die Leute von Euboia zogen um 750 mit phönikischen Kaufleuten aus und besiedelten die Gegenden, in denen Odysseus sich noch ganz alleine fühlte. Leicht nördlich von den Sirenen befinden sich Capri und Ischia, und Ischia wird besiedelt unter dem schönen Namen Pithekoussai, die Affeninsel. Es scheint, als wären dort noch Affen gewesen, wie auf Gibraltar heute. 1953 kommt bei den Ausgräbern ein Wunder zum Tragen: nämlich ein Jambus und zwei Hexameter auf einem Becher im Grab eines jungen Epheben. Und dort steht ziemlich eindeutig, in schöner, kalligraphischer Schrift, sehr gut lesbar, abgesehen von kleinen Lücken im Text, wo dieScherben fehlen: »Nestoros eimi eupoton poterion« – »Nestors Becher bin ich, wohl zu trinken. Wer aus dem hier trinkt, den ergreife auf der Stelle das Gelüst schön bekränzter Aphrodite.«
    Es gibt Leute, die übersetzen diese Stelle mit Genitivus objectivus, »das Gelüst nach der schöngelockten Aphrodite«. Es ist klar, daß Aphrodite die Göttin ist, die das Begehren den Griechen schenkt. Sie hat es nicht nötig, von irgendwelchen Säufern auf einem Symposion begehrt zu werden, sondern sie erweckt das Begehren. Und deshalb bekränzen sich die Leute auf den Symposien, den Gelagen, weil sie die Götter in ihrer Bekränztheit nachmachen, »kallistephano aphrodites« – »der schön bekränzten Aphrodite«. Die Ausgräber haben sofort entdeckt, daß das ein Homer-Zitat ist. Im elften Gesang der Ilias wird ein Riesenbecher aus Gold beschrieben. Der steht auf dem Tisch, und nur Nestor, der greise Held, der Herr von Pylos, kann den heben und den Wein daraus trinken. Also ist er natürlich nicht Nestors Kelch, der kleine Becher auf Ischia, sondern ein literarisches Zitat.
    Ernst Risch und ich haben uns unabhängig voneinander die letzte Zeile noch mal angeschaut: Im achten Buch der Odyssee schlafen Ares und Aphrodite (weil Hephaistos, der Gatte, gerade mal abwesend ist) miteinander und werden dann erwischt. Und da heißt es eben: »Eustephanos Aphrodite«, also »die gut bekränzte Aphrodite«. Nun sagen Risch und ich, daß das auf Ischia eine Anspielung auf die Odyssee ist. Damit ist die Kenntnis einer geschriebenen Odyssee quasi durch Abduktion, also mit Sherlock-Holmes-Methoden, bewiesen, archäologisch bewiesen. Und Risch teilt dann auch mit, Walter Burkert sei die Ehre zuteil geworden, diesen für uns Sterbliche natürlich unzugänglichen Kelch in die Hand nehmen zu dürfen, den Ischia-Kelch, den Nestor-Kelch – und bei ganz nahem Betrachten sei dann klar geworden, der Schreiber dieser drei Zeilen muß eine in Versen abgesetzte, geschriebene Fassung vor sich gesehen und nachgemacht haben.
    Noch ein zweiter Beleg, der ziemlich gleichzeitig ist: Auf der Dipylon-Kanne vom Kerameikos im Athener Nationalmuseum findet sich ein perfekter Hexameter und der Anfang eines zweiten Hexameters – und dann kommt kleines Gekritzel, von dem Barry Powell nach Autopsie – wie bei Burkert – wohl mit Recht vermutet, eine zweite, ungelenke Hand folgt einer ersten, sehr gewandten Hand, die schreiben und dichten kann. »Wer nun von Tänzern allen
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