Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Autoren: Friedrich A. Kittler
Vom Netzwerk:
wir nie. Und das ist das Problem der griechischen Musiktheorie.
    Wir bleiben in diesem Land, Unteritalien, das die Griechen so schön fanden, daß sie Odysseus alle folgten. Und 530 sind die Griechen bereits in Massen gelandet aus dem simplen Grund, weil Italien – bis heute noch – sehr wälderreich ist, was Griechenland nun bei Gott nicht war. Ein guter Grund, dort zu landen, treibt auch 530 den mathematisch begabten Pythagoras von Samos nachKroton und Metapontion – also an die südliche Stiefelkante in die schönste und rosenreichste Gegend Italiens. Gregorius hat 1818 Tränen vergossen, daß von den beiden Stätten des Pythagoras und seiner Schule, die uns ja die Universität als solche beschert hat – wir sind alle Pythagoreer –, noch eine Säule steht. Dort stellt Pythagoras nicht einem Schüler, sondern vielen Schülern (das ist ja das Wesen der Universität) die Frage: Erfinde die Frage selber. Nämlich »ti estin«, »Was ist etwas?« Und dann fragt er: »Was ist die Zahl?« Und erwartet die Antwort: »Das Beste.« Würde ich auch sagen. »Was ist das Rasende in Delphi?« »Was ist das Orakel von Delphi?« Niemand weiß es. Und dann sagt Pythagoras: »Tetraktys« – mein Zauberwort, mein mathematisches. Die Anschreibung der Zahlen eins, zwei, drei, vier, als ein Steinchen, darunter zwei Steinchen, drei Steinchen, vier Steinchen. Jetzt dreht es sich rum, jetzt machen wir nicht mehr Archäologie, jetzt machen wir Schreiben mit Zahlen – und zwar absichtlich.
    Wir setzen eins, zwei, drei, vier. Pythagoras sagt einem Schüler: »Zähl mal!« Der fängt ganz langsam an, eins – zwei – drei – vier. »Stopp«, sagt Pythagoras und fragt: »Was hast du jetzt gemacht?« »Gezählt bis vier.« »Nein, du hast die Zahl zehn gebildet. Eins plus zwei plus drei plus vier – zehn.« – Die heilige Zahl der Pythagoreer. Und nachdem Pythagoras das tat, denkt er wahrscheinlich nur die Beziehung zur ersten Zahl, zur arche, zur eins. Das ist der erste Algorithmus, die erste Operationale, der erste Signifikant ohne Signifikat. Mit der Tetraktys kann man alles machen, aber man kann nicht sagen, was sie ist. Und deshalb haben die Schüler nach dieser genialen Antwort das manteion, die Weissagung von Delphoi, gebildet: »Sei die Tetraktys!« Pythagoras selber ist in Delphi so benannt worden: Pyth- heißt »Pytho«, heißt der Abgrund von Delphi, heißt »verfaulen«, heißt alles mögliche. Und agoras kommt von »agora« und vom Sagen. Also ist Pythagoras der, der die dunkle Sage der Toten oder der Sänger ans Licht der Griechen Unteritaliens bringt. Deshalb diese Antwort auf die Schüler. Und daraufhin fragen die Schüler: »Und was ist die Tetraktys?« Und da sagt Pythagoras: »Harmonia! Die Harmonie, in der die Sirenen …« – Ende des Überlieferten. Das heißt: »akousma«, diese akustischen mündlichen Orakel, die Pythagoras, ohne zu schreiben, zu den Seinen rief. Das kann ja nur heißen, die Beziehung des Singens der einen Sirene zur anderen Sirene – es sind ja zwei Sirenen, sagt Homerzweimal ausdrücklich durch Gebrauch des Duals statt des Plurals. Diese Beziehung ist die Harmonie, so wie die Sirenen singen, und diese Harmonie, die da erklingt, ist das Orakel von Delphi – eine doppelte Erklärung. Und »harmonia« wird dann ein Schlüsselwort der Pythagoreer. Es kommt zunächst einmal vom Streitwagen in Troja, »harma« usw., wird dann die Fuge, die beispielsweise Flöße zusammenhalten, »harmonia« (kein Singular), das sind die Metallhaken, die das Floß zusammenhalten, das auf Geheiß der Götter Kalypso dem Helden zu bauen erlaubt, damit er sie aus Liebe verläßt.
    Pythagoras’ Schüler denken das noch ein bißchen radikaler und erweitern die Tetraktys. Und bei den Pythagoreern heißt »harmonia« etwas ganz Neues, nämlich die Fuge, die Oktave vor allem. Die Oktave wäre also die erste mathematische Gestalt. Und Pythagoras oder seine Schüler erkennen, daß sie mathematischen Gesetzen gehorcht. Sie wissen, teilt man an der Kithara oder Phorminx eine beliebige Saite in zwei gleiche Hälften, dann entsteht aus dem Grundton die Oktave. Teilt man sie zwei Drittel versus ein Drittel, entsteht die Quinte, da wäre das Verhältnis nicht mehr 2 : 1 in den Zahlen, sondern 3 : 2. Teilt man sie im Verhältnis 4 : 3, dann bekommt man eben die Quarte. Und dann können die Pythagoreer sagen, die Tetraktys ist operational geschlossen. Und das schreiben sie an, in der merkwürdigsten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher