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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
Autoren: Matthias Onken
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    Traum
    Januar 2007
    In der Redaktion. Der große Besprechungsraum. Er sieht aus wie bei der Hamburger Morgenpost . Schräg hinter mir der um Wasser bettelnde Benjamini. Seit Jahren darbt er vor sich hin, weil ihn niemand gießt. Selbst die Putzkolonne beachtet ihn nicht. Meine Hände schwitzen auf der mattschwarzen Tischplatte. Wo der Schweiß trocknet, bleibt ein hässlicher Salzfleck. Solche Konferenztische baut jemand, der noch nie unter Hochspannung an ihnen gesessen hat. Die sechs Kollegen in der Runde kenne ich nicht. Es sind Fremde. Aber ich bin ihr Chef. Gerade ist die Zeilenkonferenz vorbei, in der die Ressortchefs mit mir um den besten Aufmacher für Seite eins ringen. Manchmal drängt sich das Thema für die Schlagzeile auf, dann müssen wir nur noch an der Formulierung feilen. Manchmal verlangt sie eine mühevolle Komposition. So wie heute. Immer wieder haben wir das Thema und die Tonart gewechselt. Doch die Lage ist so dünn, als stünde die Welt still. Keine Top-Nachricht, nichts Exklusives.
    Sackgasse.
    Wir brechen ab. Die Laune ist schlecht, die Stimmung gereizt. Ein guter Aufmacher ist wie Doping. Ohne bleiben wir auf der Strecke. Egal jetzt, Hauptsache fertig werden. Irgendwie.
    Noch knapp zweieinhalb Stunden bis zur Deadline. Zweieinhalb Stunden. In unserer Situation kaum mehr als ein Wimpernschlag. Vielleicht hat die Polizeiredaktion noch etwas reinbekommen. Schnell fragen.
    Schnell.
    Ich drücke die Tür des Konferenzraums auf. Stille. Kein Mensch im Flur. Im Großraumbüro sitzen ein paar gesichtslose Gestalten an ihren Rechnern. Sie blicken nicht auf, starren auf ihre Monitore. Schnell weiter.
    Schneller.
    Ich nehme die nächsten zwanzig Meter Gang im Laufschritt, stoße rechts die dunkle Bürotür auf. Die Polizeiredaktion: verlassen. Keiner da, nur der Polizeifunk rauscht mir in die Ohren. Und jetzt?
    Herzrasen.
    Ich schaff das heute nicht. Niemand da, der mir hilft, niemand da, der mich erlöst. Ohne Schlagzeile gibt’s morgen keine Zeitung. Hitze knallt mir in den Kopf. Ich fliege die Treppe runter, drei Stufen auf einmal. Zweiter Stock, der Produktionsraum ist leer. Kein Layouter. Kein Redakteur. Kein irgendwer. Nur ich. Und Hitze. Und Panik. Alles hängt an mir. Alles dreht sich …

    Ich zucke aus dem Schlaf hoch. Das Herz rast, die Gedanken galoppieren. Es ist mitten in der Nacht, halb vier sagt mir mein Blick auf die Digitalanzeige meines Weckers. Das Bettlaken ist so feucht, als hätte ich hineingepinkelt. Es riecht nach süßem Schweiß; meine Lippen schmecken salzig. Der Geruch und der Geschmack beruhigen mich, geben mir das Signal, zu Hause zu sein. Der Traum war eine Strapaze, aber: nur ein Traum, alles ist gut, zumindest jetzt gerade. Stand-by statt Laufrad. Der Stress im Job lässt mich selbst im Bett nicht los, verfolgt mich in meinen Träumen, saugt mich aus wie ein lästiger Parasit seinen wehrlosen Wirt. Der Stress ist der Teufel. Und er wird immer teuflischer.
    Die nächsten zwei Stunden liege ich schlaflos da. Denke den nahenden Arbeitstag durch, entwerfe einen Themenplan, fahnde nach Aufhängern für Geschichten, texte Zeilen. Doch anstatt mich zu beruhigen, beunruhigt mich das. Ich werde immer nervöser. Der Kopf rattert. Mein Atem geht flach. Ich spüre ein Brummen an den Schläfen, ein Drücken im Bauch, ein Stechen im Rücken. Viertel nach sieben tapse ich gerädert ins Bad. Mein Herz donnert in der Brust. Ich sorge mich um meinen Körper.
    Infarktangst.
    Sie bleibt nur einen ehrlichen Augenblick lang. Denn jetzt muss ich funktionieren. Sorgen kann ich mich später noch.
    Kurz nach halb neun bin ich in der Redaktion, sitze in meinem Büro. Noch immer wummert es in der Brust. In einem zweiten ehrlichen Augenblick an diesem Morgen frage ich mich: Mute ich mir zu viel zu? Kann man von Stress sterben? Das erscheint mir in meiner Situation nicht weit hergeholt. Ich leck mir eine Pfütze «Notfalltropfen» von der Hand. Manchmal bringen die mich runter. Jetzt immerhin ein bisschen.
    Unser Blatt ist heute nur Durchschnitt. Auf meinem Tisch liegen die Zeitungen der Konkurrenz. Ich vergleiche Thema für Thema. Was haben die anderen, laufen wir irgendwo hinterher? Ich werde ruhiger, auch die Konkurrenz ist dünn. Nirgends ein Kracher, alles halb so wild. Erleichtert lehne ich mich zurück.
    Als um neun die ersten Kollegen grüßen, habe ich fast gute Laune. Sie vertreibt das diffuse Gefühl nicht, dass der Stress mir nicht guttut; ich spüre, dass ich
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