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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut
Autoren: Jochen Senf
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Wohnung an? Kam eigens deswegen zwei Stunden vor Abflug ihres Fliegers ins ›Dollinger‹? Sie kannte mich nicht. Ich könnte alles Mögliche anstellen. Eine Woche ist lang. Ich war allein mit ihrem Sohn. Was, wenn wir uns nicht verstanden?
    »Will Ihr Sohn das denn überhaupt?« Das war der wunde Punkt.
    »Sie haben recht. Es geht um meinen Sohn. Er ist etwas schwierig. Ich lasse ihn ungern so lange allein.«
    »Wie alt ist er denn?«
    »Ich bin eine Spätgebärende. Er ist 17. Ich war 37, als ich ihn bekam.«
    »Und da kann er nicht eine Woche allein zu Hause sein?«
    »Sie täten mir einen Gefallen.« Ich wollte noch fragen, warum sie eine Woche weg war. Aber das ging mich nichts an. Ich willigte ein. »Gehen wir.« Wir zahlten und gingen in ihre Wohnung.
    Ich befand mich auf dem Weg in eines der unsichtbaren, stets anwesenden Röhrensysteme, die parallel zu unserem sichtbaren Leben verlaufen. Wir können jederzeit in eine dieser Röhren, die zumeist sehr fremdartig sind, einsteigen, wie in eine Straßenbahn, die aus einer uns unbekannten Gegend kommt. Das Einsteigen ist leicht. Das Aussteigen ist das Problem. Das gelöste Ticket ist meist unleserlich und nur schwer entzifferbar.
    Ihre Wohnung war im vierten Stock. Es gab einen Lift. Wir fuhren hoch. Sie stand dicht bei mir. Den Rücken mir halb zugewandt. Sie hatte ein angenehm riechendes Parfum. Ich überlegte, wo auf ihrer Haut es am besten riechen würde. Ich wollte diese Stellen kennenlernen. Jetzt war klar, warum ich zugesagt hatte. Ich hätte sie von hinten umfangen können. Sie lehnte sich kurz an mich. Es war bestimmt kein Zufall. Der Fahrstuhl hielt. Dabei ruckelte er leicht.
    Es war eine sehr große Wohnung. Sie zeigte mir das Gästezimmer. Es war karg, aber geschmackvoll möbliert. Ein großes Bett, ein großer, alter Holztisch mit einem Stuhl und eine sehr schöne Biedermeierkommode aus Birkenholz, die hellgelb poliert in einem Sonnenstrahl glänzte, der sich ins Zimmer stibitzt hatte. Der Boden bestand aus breiten, abgezogenen Dielen. Das Zimmer war angenehm unaufdringlich rustikal.
    Im Wohnzimmer leuchtete bläulich ein riesiges, in die Wand eingelassenes Aquarium. An den Wänden befanden sich Regale voll mit Büchern und eine Unmenge Bilder. Die Sitzecke bestand aus schweren, hellgelben Ledersesseln, die auf einem farbenprächtigen, großen Kelimteppich standen. Neben der Sitzecke war ein großer, aus grauem Naturstein gemauerter Kamin. Holzscheite waren aufgestapelt. Ein massiver Schürhaken lehnte an der Kaminwand.
    »Die Küche ist da. Hier das Bad. Hier das Esszimmer.« Sie führte mich im Eiltempo durch die Wohnung. »Den Rest schauen Sie sich selber an. Meinen Sohn werden Sie irgendwo hier finden. Manchmal versteckt er sich. Da nützt es auch nichts, ihn zu rufen.« Sie stand schon mit einer Reisetasche in der Tür. »Ach ja, hier, der Wohnungsschlüssel.« Dann war sie weg. Wie ein Luftzug. Sie hatte nicht mal den Namen ihres Sohnes genannt. Auch kein genaues Datum, wann sie wieder in Berlin war. Wenn sie Berlin überhaupt verließ.
    Ich stand etwas ratlos vor dem Aquarium und schaute den Fischen zu, die über dem weißen Sand schwebten, in dicht gepflanzten Wasserpflanzen verschwanden und sich in Steinhöhlen verbargen. Ich nahm mir einen Stuhl aus dem Esszimmer und positionierte mich vor dem Aquarium. Das sanfte Gleiten der Fische beruhigte ungemein. Ich schaute in eine andere Welt. Eine Türe wurde zugeschlagen. Ich lauschte, hörte aber nichts. Ich erhob mich, um mich nach dem Sohn umzusehen, der ja irgendwo in der Wohnung war, wenn er sich auch versteckte. Wovor versteckte er sich, und warum überhaupt? Und wieso ließ mich seine Mutter mit ihm allein? › Er ist lieb, aber schwierig. ‹ Seltsam.
    Ich betrat das Schlafzimmer von Frau Stadl. Es war sehr groß und mit elfenbeinfarbenem Teppichboden ausgelegt. Das Bett war riesig. Die Decken und Kissen darauf in bunten Bezügen waren zerknäult. Ein einarmiger Teddybär mit lädierter Nase lag neben dem Bett auf dem Boden. Er war zerzaust und alt. An der Wand links neben den hohen Fenstern stand ein großer Schminktisch mit einer Lichtleiste und vielen Fächern, wie man ihn in Theatern verwendete. Auf dem Tisch stand ein geöffneter Schminkkasten. Neben ihm lagen mehrere Pinsel, Schwämmchen und Puderquasten. Es sah aus, als habe sich gerade jemand geschminkt und war durch mich verscheucht worden. Links und rechts der Türe waren Wandschränke eingebaut. Eine schmalere Türe führte in
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