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Nachtpfade

Nachtpfade

Titel: Nachtpfade
Autoren: N Förg
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Kapitel 1
    »O hätt ich doch nie gehandelt!
    Um wie manche Hoffnung wär ich reicher!«
    Hölderlin, Hyperion
    Nein, sie joggte nicht, und sie stöckelte schon gar
nicht mit diesen Nordic-Walking-Dingern herum. Sie sah dem Mann nach, der zu so
früher Stunde an ihr vorbeirannte. Sie fand es widerwärtig, in irgendwelche
Chemiefasern zu schweißeln, die angeblich alle Körpersäfte sofort nach außen
transportierten. Und diese Am-Stock-Geher sahen immer so als, als schleiften sie
Ballast mit und würden sich die Schultern auskugeln. Sie würde einfach weiter
spazieren gehen, und dank Plinius’ hohem Alter und seinen kurzen Beinen war das
eher ein Schlendern. Die Sonne hatte zu klettern begonnen, die Wolken der Nacht
begannen sich aufzulösen. Erste Sonnenstrahlen spielten mit See und Schilf. Der
See lag spiegelglatt da, kein Laut war zu hören. Ihre Schritte auf dem Steg
waren fast unangenehm laut. Das Wasserrad stand. Im Schilf saßen ein paar Enten
und schienen wohl gerade aufzuwachen. Einige hatten den Kopf noch unter den
Daunen, ein, zwei begannen ihr Gefieder zu putzen. Früher hätte Plinius sie
gejagt, heute war ihm das definitiv zu anstrengend. Er war zudem ziemlich taub
und halb blind. Sie schritten über die taufeuchte Wiese des Badestrands, wo ein
verlassenes Handtuch und ein ganz scheußlicher Badeanzug lagen, an der
Seitenwand des Kiosks lehnte ein knatschgrünes Badetier und sah unglücklich aus
– auch dieses Dino-Drachen-Gemisch war wohl vergessen worden. Sie fühlte sich
auf einmal schwer und reduzierte ihr Tempo noch ein wenig. Es war ein behäbiges
Gehen am See entlang, und sie überlegte gerade, ob sie sich auf eine der grünen
Bänke da auf der kleinen Schilfhalbinsel setzen sollte. Da rannte Plinius los,
quer durch die Binsen.
    Und er bellte so richtig wie ein Hund, was er sehr
selten tat. Dann war er verschwunden, und sein Bellen wurde schwächer.
»Plinius!«, rief sie und wusste, dass das völlig sinnlos war. Hatte den
Rehpinscher auf seine alten Tage noch der Jagdinstinkt gepackt? Sie musste
lächeln. Und nahm keineswegs mehr Tempo auf. Plinius würde sich nicht in Luft
auflösen, und zudem konnte man nicht verhindern, was nicht zu verhindern war.
Davon war sie zutiefst überzeugt. Das traf ihres Wissens für alle Lebenslagen
zu.
    Sie umrundete weiter den See, fast bis zur Brücke am
ostseitigen Auslauf. Wo war der Hund bloß? Vom See her kam ein Winseln. Das
klang merkwürdig in ihren Ohren, denn Plinius war eigentlich nur zu
hochfrequentem ohrenbeleidigendem Kleinhunde-Bellen in der Lage. Sie rief ihn
nochmals, ohne Ergebnis, und machte sich dann eben doch auf ans Ufer. Der Boden
gab nach, er schwang mit, alle Weichheit dieser Filzlandschaft, alle
Nachgiebigkeit einer sanften Natur lag unter ihren Füßen.
    Als sie den Hund erreicht hatte, saß der neben einer
Frau. Sie war jung. Hübsch und sehr blass. Unter ihrer dünnen weißen Bluse
zeichnete sich ein BH ab, ihr
weißer gestufter Rock hatte eine Spitzenbordüre am Saum, und darunter waren
ihre schmalen, langen Beine zu sehen. Das erste Licht des Herbsttages gab der
Szene etwas Weiches, Anmutiges. Wieso ging ein junges Mädchen in voller Montur
zum Baden?, dachte Kassandra und sah in die braunen Augen, in denen so was wie
Erstaunen lag. Plötzlich gab Plinius ein schauerliches Heulen von sich, wie ein
Wolf, hätte man vielleicht gesagt, wäre die Assoziation im Zusammenhang mit
einem Rehpinscher nicht einfach zu albern. Sie erschauderte, der Morgen war
eben noch sehr kühl, herbstkühl. Sie sank langsam auf die Knie und fühlte die
Halsschlagader des Mädchens. Dessen Haut war kalt und samten. Sie kam langsam
wieder hoch und sah das Mädchen genau an. Es kam ihr bekannt vor. Es war so
schön in diesem ersten Sonnenlicht, schön wie eine Braut.
    Manchmal wäre ein Handy eben doch von Vorteil. Ein
aufgeladenes Handy, eins, das man dabeihatte, anstatt es auf dem Küchentisch
liegen zu lassen. Sie trat zwei Schritte zurück. »Plinius, hierher!« Sie sagte
das leise, und seltsamerweise hörte Plinius sie und machte Sitz direkt neben
ihren Füßen. »Guter Hund!« Sie flüsterte, als wolle sie das junge Ding nicht
wecken. Doch das Mädchen mit den wächsernen Wangen würde nun lange ruhen, sehr lange. Unverwandt betrachtete sie das Mädchen, ein Bild wie aus einem
Musikvideo. Hatte es da nicht mal so was mit Kylie Minogue gegeben und im
»Jeanny«-Video von Falco? Als Plinius wieder wüst zu bellen begann, fuhr sie
herum. Der Jogger von
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