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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut
Autoren: Jochen Senf
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ich ihn vielleicht erwartet hatte. Einen wie auch immer gearteten schwierigen Blick. Aber was ist das, ein schwieriger Blick, dachte ich, ein ersterbender oder gebrochener oder hasserfüllter oder ein ›Du kotzt mich an‹-Blick? Schließlich war es nicht alltäglich, dass ein junger Mann mit solch einem brutalen Hundemaul ins Gesicht gemalt zwischen den Pelzen seiner Mutter im Schrank saß und den berauschenden Duft von Mottenkugeln einatmete. Die Schlafstatt auf dem Balkon war ebenfalls erklärungsbedürftig. Schlief der Junge immer da? Auch im Winter? Es war bald Winter. Daran änderten auch die schönen Herbsttage nichts. Wo nächtigte er dann? Ich dachte an den armamputierten Teddybär im Schlafzimmer. An das Riesenbett der Frau Stadl. Vielleicht schlief der Sohn in den kalten Nächten im Bett seiner Mutter, deren Leib ihm Wärme spendete. Was sagte sie? › Der Junge ist lieb, aber schwierig. ‹
    Dieser Junge schob nun die Pelze beiseite und kroch aus dem Schrank. Er war groß, schlank, die Jeans schlackerten um seine Beine. Die Arme, die aus dem T-Shirt ragten, waren muskulös und sehnig. Er ging in die Küche und schüttete sich dort Cornflakes in ein Schälchen, die er mit Milch begoss. Mit dem Schälchen ging er auf die Terrasse. Er aß im Stehen. Von mir nahm er keinerlei Notiz. Es war jetzt dunkel. Die Mondsichel war ganz schmal. Über das Straßenpflaster fuhr ein Auto. Die Scheinwerfer strahlten bis zu uns hinauf. Nachdem er das Schälchen geleert hatte, stellte er es neben den Pappkarton auf den Boden. Aus dem Karton angelte er sich einen Blouson aus grobem Wollstoff, den er anzog. Dann nahm er sein Akkordeon und schulterte es. Er ging zur Eingangstüre. Dort blieb er stehen, mit dem Rücken zu mir. Seine Schultern bewegten sich leicht. Der rechte Arm. Er schrieb etwas. Er drehte sich um und gab mir einen Zettel. Darauf stand: › Sie findet immer einen Idioten. ‹ Es las sich wie › Verpiss dich. ‹ Er verließ die Wohnung.

Kapitel 3
    Den Jungen hatte ich seitdem nicht mehr gesehen. Die beiden letzten Nächte hatte ich bei mir geschlafen. Pünktlich um acht Uhr setzte der Baulärm ein und ich verließ die Wohnung. Ich trieb mich herum. Ich hatte beschlossen, die Wohnung von Frau Stadl künftig zu meiden. Der Junge war durchaus allein in der Lage, mit sich zu Rande zu kommen, war mein Eindruck, trotz des martialischen Hundemaules im Gesicht. Den wahren Grund, nicht mehr in die Wohnung von Frau Stadl zu gehen, gestand ich mir nicht ein. Es war die Begegnung mit meiner Vergangenheit. Der Junge im Schrank. Mein ewiger Begleiter, der, unsichtbar für die anderen, an meiner Hand, die er nie losließ, mit mir durch das Leben lief. › In den polnischen Schränken, hinter der Rückwand, hausen böse Geister ‹ , hatte mir ein polnischer Regisseur, Tadeusz Kantor, erzählt. › Sie lassen dich nie wieder los. ‹ Ich glaubte an Geister. Sie waren überall. Man musste nur ganz genau hinschauen. Der Junge im Schrank, der Sohn von Frau Stadl, war vielleicht eine solche geisterhafte Erscheinung. Ihr Ausdruck war so außerirdisch, wenn sie von ihrem Sohn sprach. Ich hatte ja noch das geerbte Haus am Ludwig-Kirch-Platz. Solange über mir die Renovierung tobte, fand ich bestimmt dort ein Plätzchen. Aber auch das war nur ein frommer Wunsch. Das Haus war bis auf den letzten Quadratmeter bewohnt.
    »Fritz, sie haben es komplett besetzt!«, sagte Barbara Vogelweide, Ärztin und Psychiaterin, die Miterbin des Hauses. Sie hatte nicht gesagt, wer diese »sie« sind. Wahrscheinlich Kumpels von Thomas Bosic und seiner Schwester Lea, die von Barbara Vogelweide adoptiert worden waren und in dem Haus wohnten. Irgendwo würde ich schon unterkommen.
    Nachdem ich Ludwig und Martha verlassen hatte, stand ich unschlüssig mit der Mappe unter dem Arm vor dem ›Dollinger‹. Ich hatte nicht die geringste Lust, den Inhalt dieser Mappe zu studieren. Am besten warf ich sie in den nächsten Papierkorb und vergaß die Frau Maibaum und ihren toten Mann. Das Handy klingelte. Ich fingerte es aus meiner Jackentasche und hob ab. Es war Frau Stadl. Woher hatte die meine Handynummer?
    »Herr Neuhaus, ich darf doch Fritz sagen? Geht es Ihnen gut? Ihnen geht es bestimmt gut. Ich bin in Eile. Ihr beiden versteht euch doch? Bestimmt versteht ihr euch. Schläft er lange genug? Ich bleibe ein paar Tage länger. Ich melde mich wieder.« Sie legte auf. Meinen Vornamen kannte sie auch schon. Ich hätte gerne gewusst, wo in der großen Wohnung
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