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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut
Autoren: Jochen Senf
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eine begehbare Kleiderkammer. In Regalen standen unzählige Schuhe. Von den Kleiderhaken hingen viele Kleider. Röcke, Jacken, Kostüme, Abendgarderobe, Blusen. Es waren alles Frauenkleider. Ich ging wieder ins Schlafzimmer. Die hohen Fenster konnten mit schweren, goldbestickten Brokatvorhängen zugezogen werden. Jetzt aber flutete helles Licht in das Zimmer. Die Beleuchtung des Raumes war eine indirekte. Von der Decke hing ein riesiger Hirschgeweihfarn. Er hatte einen Durchmesser von mindestens zwei Metern. Ein Prachtexemplar, wie ich es schon lange nicht mehr gesehen hatte. Er drehte sich ganz leise und warf Schatten. Ich selbst hatte einen solchen großen Farn, wenngleich wesentlich kleiner, und konnte stundenlang unter ihm sitzen, um zu träumen und mit ihm Zwiesprache zu halten. Auf dem Boden waren Bücher und Zeitschriften verstreut. Auf einer kleinen Truhe standen ein Fernseher und eine Musikanlage. Über dem Bett hing ein großes Gemälde. Öl auf Leinwand, 160 × 180 Zentimeter, von dem Maler Yongbo Zhao aus China, mit dem Titel › Revolutionäre Familienporträts (4): Ich ‹ . So stand es in dem Katalog des Malers, der aufgeschlagen auf dem Bett lag. Es war ein unglaublich brutales Bild. Ich starrte in das extrem weit aufgerissene Maul eines Pitbulls. Die rosa Lefzen waren zum Äußersten gespannt. Der Pitbull hatte ein menschliches Gebiss. Aus dem Schädel ragten Hörner, oder waren es verkrüppelte Ärmchen? Der Blick des linken Auges war starr und sehr kalt auf mich gerichtet. Das rechte Auge war verschattet. Die Haut des Pitbulls war hell und schuppig, der Schädel in einen ovalen Kreis gemalt. Die Farbe des Kreises war etwas dunkler als die Farbe der Lefzen. Der Pitbull trug eine dunkle Halsbinde. Der ovale Kreis hatte einen schmalen goldenen Rand, der den Kreis von der dunklen Farbe des Bildhintergrundes absetzte. In die vier Ecken des Bildes waren chinesische Schriftzeichen gemalt. Ich konnte sie nicht entziffern. Ich hätte gerne ihre Bedeutung gewusst. Ich war schockiert von der kalten Grausamkeit des Bildes. Warum hing es hier im Schlafzimmer über dem Bett?
    Im nächsten Zimmer stand an der linken Wand ein schwerer, viereckiger Kleiderschrank aus dunklem Eichenholz mit zwei großen Türen. In den beiden Türschlössern steckten große Eisenschlüssel. Unter den Türen waren drei Schubladen. Der Schrank war ein Ungetüm. An den beiden Fenstern hingen keine Vorhänge. An der rechten Wand standen ein Bügelbrett und ein Wäschekorb. Unter dem rechten Fenster stand ein leerer Akkordeonkoffer. Von diesem Zimmer kam ich durch eine breite Schiebetür ins nächste. Es war das größte von allen. Es war vollständig leer, nur an den Wänden hingen große, viereckige, geschliffene Kristallspiegel, in denen sich das Licht des pompösen, überdimensionierten Kronleuchters vielfältig funkelnd spiegelte. Die Wände waren mit hellen Seidentapeten beschlagen, die mit Blumenmotiven bemalt waren. Es sah überaus kostbar aus. Die Frau Stadl war nicht unbetucht. Sie hatte ihren eigenen Ballsaal. Ich ging ins Bad. Es war ganz mit hellem Marmor ausgestaltet. Neben dem Bad war die Toilette. Ich begutachtete das Esszimmer. Es gab eine Durchreiche von der Küche in das Esszimmer. Unter der Durchreiche stand ein großer Anrichttisch, auf dem Weingläser, Flaschen, Serviettenringe und Kerzenständer standen. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer, einfacher Holztisch aus Nussholz mit acht verschiedenen Stühlen. In einer großen Glasvitrine war das Geschirr. Von der Decke hing ein Art déco-Bronzelüster.
    Der Sohn war nirgends zu finden. Ich warf durch ein Fenster des Wohnzimmers einen Blick auf den Balkon. Es war ein großer Balkon, fast schon eine Terrasse. Ich öffnete die Balkontüre und ging hinaus. Frau Stadl hatte große Tonkübel aufgestellt und diese bepflanzt. Ich stand in einem richtigen Blumengarten. Hohe Stockrosen, Dahlien, Rittersporn, fast mannshohe Farngewächse. An Drahtgestellen rankten sich Clematis und andere Kletterpflanzen, die ich nicht kannte. Rosensträucher blühten. In einer Ecke der Terrasse, vom Wohnzimmer aus nicht einsehbar, stand ein Militärklappbett. Auf dem grünen, derben Stoff des Bettes lag ein Militärschlafsack. Neben dem Bett stand eine Kiste aus Karton. In der Kiste waren Kleider, Jeans, Socken, Unterwäsche, T-Shirts, ein Pulli, soweit ich das sehen konnte. Außerdem war neben dem Bett eine Stehlampe aufgebaut. Auf einem Pappteller neben der Lampe lagen Essensreste.
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