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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut
Autoren: Jochen Senf
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dürfte.
    »Wieso?«
    »Sie können doch nicht alle auf einmal lesen.«
    »Der Mann belästigt mich«, sagte sie zu Lutz, dem Kellner, und legte ihre Arme auf die Zeitungen, die in Zeitungshefter eingeklemmt waren. Lutz tippte sich nur an die Stirn und warf mir einen entsprechenden Blick zu. Ich hätte Gewalt anwenden müssen, um eines der Blätter unter ihren Armen hervorzuziehen. Sie sah mich herausfordernd an.
    Ein paar Tage später sprach sie mich wieder an, als wäre nichts gewesen. Es ging wieder um ihren lieben, aber schwierigen Sohn. Sie erläuterte nicht, was den Sohn so schwierig machte, obwohl er lieb war. Sie schaute merkwürdig verhangen ins Leere, wenn sie von ihrem Sohn sprach. Als schaute sie auf einen Geist, der vorbeischwebte.
    »Er ist lieb, aber schwierig.« Mehr sagte sie nicht über ihren Sohn. Den Satz wiederholte sie durchaus mehrmals. Dabei spitzte sie ihren Mund.
    Sie war groß und schlank, hatte für ihr Alter eine blendende Figur und ein waches Gesicht unter welligem, kastanienbraunem langen Haar, das sie bisweilen mit einer Kopfbewegung aus der Stirn scheuchte. Ihr Mund war sinnlich. Das Kinn voller Energie. Ihr fehlte nur noch eine Reitgerte, mit der sie dirigierte und befehligte. Und ein hohes Ross zwischen den Schenkeln, die sich in ihrem Hosenanzug schön abzeichneten. Sie war eine Gutsbesitzerin ohne Gut und Gutsbesitzer, die sie beherrschen und verwalten konnte. Genau diese Ausstrahlung hatte sie. Immer eine Spur überdreht. Als müsste sie zehn Dinge gleichzeitig erledigen, es aber nie schaffen. Nie! Immer blieb etwas liegen! Immer Versagerin! Vielleicht ertrug der Sohn seine Mutter nicht?
    Meine Mutter hatte diesen ewig sanften Madonnenblick.
    »Fritz, mach, was du willst. Ich setze dir keine Grenzen. Ich bin immer für dich da.« Ich rannte wie ein Hamster im Laufrad, um anzukommen. Ich kam nie an. Am Horizont als einziger Grenzpfahl übergroß die Gestalt meiner Mutter, auf die ich zurannte. Es gab kein Entkommen. »Mein Vater war nie stolz auf mich!«, sagte meine Mutter. Mit dieser verzweifelten Sehnsucht im Blick, den sie auf mich heftete. Immer wieder. Als müsste ich der Vater sein, der stolz auf sie war und sie endlich von diesem Fluch erlöste. Da war niemand, der mich von ihr erlöste, weit und breit keine Seele, die mir diese Mutter vom Hals schaffte, an dem sie hing wie ein mahlender Mühlstein.
    Vor drei Tagen kam Frau Stadl in die Weinhandlung von Claus Hertz im Vorderhaus. Ich beschwerte mich gerade über den Renovierungslärm, als sie den Laden betrat. Claus hatte eigens für mich eine Flasche Pauillac geöffnet, einen nicht billigen Rotwein. Frau Stadl stellte sich ungefragt dazu und füllte das für mich bestimmte Burgunder Rotweinglas bis zum Rand. »Kohäsion, Adhäsion.« Vorsichtig bewegte sie das Glas an ihre Lippen und süffelte ein paar Schlückchen. Claus brachte mir ein neues Glas. Frau Stadl erwies sich als Kennerin von Rotwein. Meiner Klage über den Baulärm hatte sie nur kurz zugehört. Sie machte eine abrupte Handbewegung, schnitt mir das Wort ab und riss dann das Gespräch vollkommen an sich. Sie sprach ununterbrochen und degradierte Claus und mich zu Zuhörstatisten. Es entstand eine sogartige Sprechspirale in ihrem Mund, die die Wörter aufsaugte wie ein Staubsauger den Staub, sobald Claus oder ich ein Sätzchen wagten. Die Spirale schraubte sich höher und höher, wurde immer voluminöser, ein Sturzbach von Worten ergoss sich aus ihrem Mund, das Sprechtempo steigerte sich in einem fort wie ein Rennwagen, von Kurve zu Kurve, dessen Fahrerin Gas gab; die Sprecherin richtete sich steil auf beim wirbeligen Reden, kerzengerade stand sie, sie spiegelte sich im Schaufenster samt der vielen Weinflaschen in den Regalen. Sie maß schließlich starr ihr gespiegeltes Konterfei, als wohnte sie sich selbst als Inszenierung bei.
    »Tough sein, das ist es«, rief sie mehrmals laut, fast außer sich. »Ich bin tough.« Dabei lachte sie schallend. »Tough tough tough!«
    Sie war übergeschnappt. Claus schaute mich irritiert an. Sie wollte noch eine weitere Flasche trinken. Aber Claus musste nach Hause.
    »Gila hat gekocht. Ihr berühmtes Wildschweinragout. Ich muss dichtmachen«, drängelte er. Vielleicht war es eine Ausrede. Er wollte nur Frau Stadl loswerden.
    Die kaufte noch eine Flasche Fronsac. »Kommen Sie, die vernichten wir noch bei mir.« Ich war mir nicht sicher, ob und wie ich den Abend bei und mit Frau Stadl überstehen würde. Reizlos war sie nicht.
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