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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut
Autoren: Jochen Senf
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in die Hände und rieb sie an den Hosen ab, um den Staub der Bücher zu entfernen.
    »Ein Buch ist für mich da. Für Neuhaus.«
    »Ah ja.« Er kramte in einem Bücherhaufen in einem Nebenzimmer. Die Türe stand offen. Ich sah das Akkordeon. Ich kannte es. Ein Stromstoß durchfuhr mich. Nur kurz. Dann erfüllte mich eine fast heitere Ruhe. Er kam zurück, die Türe blieb angelehnt. Einen Spalt breit. Ich konnte das Akkordeon noch sehen. »Hier ist es.« Er legte den Band auf ein Klavier. Es war eine Ausgabe des ›Simplicius Simplicissimus‹ von Grimmelshausen mit Drucken des Schweizer Malers und Graphikers Hunziker. Die Auflage war limitiert und selten. Ich hatte lange nach ihr gesucht.
    »Bezahlen Sie gleich oder bei Herrn Böhme?«
    »Bei Herrn Böhme. Arbeiten Sie schon länger hier?«
    »Nur zur Aushilfe.«
    »Ich glaube, ich zahle doch gleich.«
    »Macht 80 Euro.«
    Ich kramte nach Geld. »Ich habe nicht so viel dabei.«
    »Dann doch bei Herrn Böhme.«
    »Wird so sein.«
    Die heitere Ruhe blieb. Sie verflüchtigte sich nicht. Ich war angekommen. Der Junge vor mir war Philip. Es war der Junge im Hologramm. Eine Verwechslung war unmöglich. Er hatte die breiten Backenknochen seiner Mutter. Den energischen Mund, die weichen Lippen, das heftige Kinn. Die in Rastalocken geflochtenen Haare waren blond. Die Augen braun. Er war groß und sehnig. Voller Energie. Er wusste, dass ich ihn erkannt hatte. Er sah es an meinem Blick. Seine Augen waren ruhig und offen. Ich nahm das Buch und legte das Hologramm an seine Stelle.
    »Das ist alles, was ich für Sie habe.« Er nahm das Hologramm und schaute hinein. Dann umschloss er es mit seiner Faust. Ganz fest.
    »Sie haben mir sehr geholfen.« Er reichte mir seine freie Hand. Wir tauschten einen Händedruck.
    »Ich möchte so Akkordeon spielen können wie Sie.« Ich hätte noch fragen können, wie kam das Akkordeon ins Hologramm? Ich ging. Sehr schnell. Tränen stürzten aus meinen Augen. Es war halt so. Ich konnte nichts dagegen machen. Eine Türe in mir schlug zu. Erinnerungsspuren zerstoben. Ich hoffte für immer.
    Ich machte eine Runde um den Lietzensee, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Mütter schoben ihre Kinderwagen, alte Frauen saßen auf den Bänken, Enten schnatterten, Radfahrer klingelten. Ich kehrte zurück zum Antiquariat. Ich musste das Buch bezahlen. Es zog mich hin. Der alte Böhme war wieder da. Der Junge war weg. Ich hatte seine Anwesenheit auch nicht erwartet. Es war eine Erscheinung, die ich hatte. Eine außerirdische. Ich war verwirrt. Ich konnte immer noch nicht zahlen. Ich wollte ja zu einem Automaten. Ich hatte es vergessen.
    »Ich zahle dann später. Ich bin etwas durcheinander.«
    »Schon gut. Ich habe etwas für Sie, Herr Neuhaus.« Er ging in den Nebenraum. Er kam mit dem Akkordeon zurück. »Ein feines Instrument.« Er stellte es vor mich auf das Klavier.
    »Was soll ich damit?«
    »Es gehört Ihnen.«
    »Ich kann doch gar nicht spielen.«
    »Der Junge sagte, Sie wären ein feiner Spieler.«
    »Kennen Sie ihn länger?«
    »Nein. Ich hörte ihm so gerne beim Spielen zu. Er träumte in den Büchern. Er versank in ihnen. Er las wie ein Träumender. Ich weiß nichts über ihn.« Ich nahm das Akkordeon. Es war schwer. Ich wusste nicht, wie ich es halten sollte.
    »Ich helfe Ihnen.« Er half mir in die Gurte. Das Akkordeon lag auf meinem Bauch. Ich betrat die Straße. Ich bedauerte es unendlich, dass ich nicht spielen konnte. Bis ans Ende der Welt immer geradeaus die Straße runter.

     

     
    E N D E

     
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