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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut
Autoren: Jochen Senf
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Der Aufmarsch der Polizei galt Philip, wem sonst? Ich konnte sie nicht entdecken. Der Ludwig-Kirch-Platz war voll mit Menschen. Schwer zu schätzen, wie viele es waren. Bestimmt hatte die Kommissarin die Ankündigung des Events erhalten wie ich auch. Bestimmt ahnte sie, oder wusste es, mit wem sie es zu tun hatte. Die massive Präsenz der Polizei verriet, dass die Kommissarin mit allem rechnete. Das Happening, das gerade in den Straßen und auf dem Platz vor dem Haus stattgefunden hatte, war aufruhrartig und von spontaner verführerischer Kraft, die manches beiseite räumen konnte. Wie weit konnte sie reichen? Was alles konnte aus den Fugen geraten? Das womöglich hatte sich die Kommissarin auch gefragt. Sie wollte nichts anbrennen lassen.
    Dann spielte er Akkordeon. Die Seele klagte. Der Schmerz brach sich Bahn. Das Herz weinte. Ich zog mir einen Zipfel der Nacht über den Kopf und die Schultern. Das Flehen der Musik riss mich in Abgründe. Meine Augen waren verhangen. Die Töne verrieselten. Ein letztes rhythmisches Schlagen der Finger auf der Tastatur. Es klang wie viele eilige Schritte, die nachtwärts in alle Richtungen verwehten. Adieu, adieu, schnipste ich mit den Fingern. Leb wohl, kleine Traurigkeit, mein Leben. Ein letzter Gruß. Man hörte das Atmen der Zuhörer. Sonst nichts. Nun brandete gleißendes Licht auf. Eine Lichtflut, die das Treppenhaus hochschoss. Das Haus maß sechs Stockwerke. Der breite Hauseingang war weit geöffnet. Man sah wie auf eine Bühne. Das Licht blendete, wenn man hineinsah, so stark war es. Ich legte zum Schutz eine Hand über die Augen. Dann stürzte ein großes Ding das Treppenhaus hinunter, Stockwerk für Stockwerk, vorbei an den Fenstern, und schlug parterre auf. Es war ein ungeheures, einziges Krachen. Ein Zersplittern und Zerbersten. Ein ächzendes Stöhnen, als das feste Holz sich bog und dehnte und riss unter der Wucht des Aufpralls. Es war der Krustenschrank, der auf die Steinplatten aus hellem Granit aufgeschlagen war. Seine Trümmer ragten im Ausschnitt der breiten und hohen Eingangstüre zerklüftet in die Höhe. Das gleißende Licht verwandelte ihn in eine starre Eisruine. Die Türen des Schrankes waren weggesprengt. Die Seitenwände zersplittert zu gerippeartigen Stelen, als wäre das Fleisch vom Schrank gefallen und der Betrachter schaute in sein Innerstes. Vom Beichtstuhl sah man die Bank, auf der Philip gesessen hatte. Die Gittertüre war weggeschleudert. Die unteren Schubladen waren durch den Aufprall völlig zertrümmert. Ebenso die einzelnen Schrankfächer. Die Rückwand war zerklüftet. Allein der mächtige Schrankaufsatz war erhalten geblieben. Er hing schräg in den Trümmern, oben an einer Querkante von den Stelen mühsam gehalten, die andere Querkante versank in dem zersplitterten Holz. Der Aufsatz bildete eine steile Diagonale, die die Trümmerlandschaft durchschnitt, die sich in dem Türrahmen wie in einem Bühnenrahmen darbot. Sie gab dem Chaos eine strenge Kontur. Ich ging als Einziger auf die Szenerie zu. Ich wusste nicht, wie die Anwesenden reagiert hatten. Das laute Krachen hatte jede Reaktion übertönt. Ich hatte auch nicht darauf geachtet. Ich war wie gebannt von dem Ereignis. Unter der Schrägen des Schrankaufsatzes, in diesem höhlenartigen Dreieck, kauerte Frau Stadl, als hätte sie dort letzte Zuflucht gesucht. Sie blutete aus Nase, Ohren, Mund, der weit geöffnet war, als wollte er letzte Worte sagen. Die Lippen waren gespalten und klafften. In ein Auge hatte sich ein Holzspieß gebohrt. Das Haar war derangiert und nur mühsam bedeckt von einem kleinen, runden, schwarzen Hut. Den hatte sie am Morgen nicht getragen. Ein Arm war ausgestreckt, gestützt von Holzresten, als suchte sie in ihrer Not einen letzten Halt. Die Beine waren bei dem Aufprall unter ihr weggebrochen und hatten sich seltsam verrenkt, als gehörten sie nicht zu dem Körper, neben dem sie lagen, sondern waren gerade erst zufällig vorbeigekommen, wie Reisende, um Einkehr und Rast zu halten. Einem Fuß fehlte der Schuh. Die Seidenstrümpfe waren zerrissen. Frau Stadl trug den Rock, den sie auch in dem Sterbehospiz getragen hatte. Ich war jetzt bei der Trümmerlandschaft angelangt und stand im Licht der Scheinwerfer. Ich schaute das Treppenhaus hoch. Im obersten Stockwerk, über das Geländer gebeugt, sah ich die Pitbull-Maske, die ich ja auch trug. Es war Philip. Wer sonst? Er winkte mir zu. Ehe ich zurückwinken konnte, war er verschwunden. Dann wurde ich zu Boden gerissen.
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