Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut
Autoren: Jochen Senf
Vom Netzwerk:
liebevollen Muttertrip. Sie war auf vielen Trips.«
    »Martha hat ausgesagt, was in der Wohnung passierte. Sie hat Zeichnungen davon angefertigt. Philip ebenso. Beide haben sie das Gleiche erlebt und gezeichnet. Gemeinheiten. Tod. Mord. Die Staatssekretärin hat alles bestätigt. Der Arzt, der die Totenscheine ausstellte, ebenfalls. Sie leben nicht mehr. Unmittelbar nach ihrer Aussage waren sie tot. Die Bestattungsunternehmerin ebenso. Alles nur Erfindung?«
    Wir schnatterten in einer Tour wie eine Horde aufgeregter Enten auf der Suche nach dem verschwundenen Ententeich. Wir bogen in die Giesebrechtstraße ein und hielten an vor dem Café ›Richter‹. Da gab es den besten Kuchen in ganz Berlin. Winzige Stücke und lausig teuer.
    »Ich lade dich ein.« Maria war begeistert. Einer der schwulen Kellner kam mit Schwung in der Hüfte angetänzelt. Es war Victor und er hatte eine aufgeplusterte Froschmaulfresse. Ich konnte ihn nicht ausstehen.
    »Jaaaa-h-a?«
    »Zweimal Käsekuchen mit Botox!«
    »Hach, du wieder!«
    »Und zwei Cappuccino. Unaufgeblasen. Und jetzt mach!«
    »Mach mich nicht an!« Beleidigt wackelte er davon, mit seinem Kellnerschürzchen um die knochigen Hüften. Wir kamen in unserem Disput zu keinem Ergebnis. Alles konnte so gewesen sein, und so, aber auch ganz anders. Nichts war undenkbar. Philip saß verängstigt die meiste Zeit im Schrank mit dem Debilen, fabulierten wir, und hatte die Wohnung nie verlassen. Oder doch? Aber wer weiß, unter welchen Bedingungen? Und er war so begabt, da hat er sich alles selbst beigebracht, eben ein begnadeter Autodidakt, fantasierten wir. Philip brachte sich meisterlich das Akkordeonspielen bei.
    Aber wie überlebten die Kinder eine so lange Zeit, wer ernährte, wer kleidete sie? Warum bemerkte keiner ihre fatale Situation? Mein Gott! Mein Gott! Das ist ja unsäglich! Kinder sind unglaublich zäh, stecken mehr weg und ein, als man gemeinhin denkt, verbringen Jahre auf Müllbergen mit Tieren, Hunden, Katzen, Hühnern, Ziegen und Vögeln in völlig abgedunkelten Zimmern, überall Pisse und Kot, ein infernalischer Gestank, sie haben nie das Licht der Welt gesehen, gediehen dennoch, auf wunderliche Weise. Man höre und staune, täglich diese Schlagzeilen. Wieder im Bettchen verhungert. Angebunden an Arm und Bein im Laufstall. Haut und Knochen. Zur Mumie geschrumpft. Sie werden in die Öffentlichkeit gezerrt wie kleine Überlebenshelden, Einzelkämpfer gegen alle Widrigkeiten des Kindseins, Millionen teilnahmsvoller Arme recken sich. › Oh! Oh! Oh! ‹ Empörung allerorts, zunehmende Verrohung, heillos überforderte Mütter, Auflösung der Gesellschaft, der Werte, der Moral, die meisten Kinder viel zu dick, nieder mit den Pommes! Nieder mit der Mayo! Nieder! Nieder! Nieder! Kampf den Konsumtempeln!
    Wir schwadronierten wie die Kesselflicker im Kreis herum. Der Käsekuchen kam. Die Stücke waren klein wie immer. Winzlinge. Der Chef brachte ihn persönlich.
    »Fritz, lass doch den Victor in Ruhe!«
    »Guck dir erst mal deinen Zwergenkuchen an!« Wir aßen stumm unsere Stückchen. Wir waren erschöpft vom Spekulieren.
    »Fritz, wir müssen ihn finden.«
    »Philip?«
    »Er ist die Antwort.«
    »Warst du bei der Kommissarin?«
    »Ich habe ihr die Unterlagen gegeben und ihr alles erzählt. Sie ist stinksauer. Barbara ist wütend und auch besorgt. Ich habe mich gleich wieder verdrückt.«
    »Ich wage mich auch nicht mehr hin.« Der Käsekuchen war weggeputzt in Nullkommanix. Mit den Zeigefingern stupsten wir die Krümel auf. Ein paar Spatzen äugten schon nach ihnen auf einer Stuhlkante am Tisch nebenan.
    Mein Handy läutete. Bestimmt war es Barbara. Ich hatte ihretwegen ein schlechtes Gewissen und schaute auf das Display. Sie war es nicht. Ich war erleichtert Gleichzeitig vermisste ich sie. Es war eine unbekannte Nummer, die anläutete. Ich hob ab.
    »Hier Neuhaus!«
    »Ich wollte Sie einladen. Heute Abend. In Ihre Mietskaserne am Ludwig-Kirch-Platz. Große Party mit Tiermaske, Tango, feierliches Happening mit finalem Crash. Schlussbild. Nicht vor Mitternacht. Wir treffen uns.« Der Anrufer legte wieder auf. Er hatte eine angenehme, weiche Stimme. Kein Kiekser, nichts. Es war die Stimme eines jungen Mannes, der mich mit größter Selbstverständlichkeit auf ein Fest eingeladen hatte. Locker, unaufgeregt. Ein alter Bekannter, der mich so en passant mal gerade eben anrief. Ich tupfte ein Krümelchen vom Teller, das gar nicht da war.
    Victor kam angetrippelt. Er trug hohe
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher