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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut
Autoren: Jochen Senf
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Verwandlung geschah bei ihm zu Hause, nicht in seinem Friseursalon. »Die Verwandlung ist ein Geheimnis!«, beteuerte er mit abgespreizten Fingern. An jedem Finger steckten mehrere Ringe. Um den Hals hingen Goldketten. Das offene Hemd zeigte eine stark behaarte Brust. Die Brusthaare waren schwarz gefärbt, sein Haupthaar auch, von einer Silbersträhne durchzogen. Daud war etwa 1,60 groß, wieselflink und er schnatterte wie eine Haarschere im Dauereinsatz. Er war ein amüsanter, lieber Kerl, der in einem eigenen, kleinen Museum kostbare alte arabische Gewänder, Waffen, Schmuck, Geschirr und Bücher sammelte. Dahin zog er sich zurück und verwandelte sich in sein Geheimnis, in einen arabischen Prinzen, der aus Tausendundeiner Nacht sich selbst vorlas. Es war ein kostbarer, mehrere 100 Jahre alter Foliant, den er in Persien aufgetrieben hatte. Ich gehörte zu den wenigen Menschen, die den Folianten sehen durften. Es war wie eine Begegnung mit dem Allerheiligsten.
    »Was kann ich für dich tun?«, empfing er mich an der Türe.
    »Mal mir die grässlichste Maske eines Zähne fletschenden Pitbull-Terriers ins Gesicht, wie du es nur kannst, so grässlich, so gemein, so gefährlich, so bösartig.«
    »Huch, was ist denn in dich gefahren! Wird mir ja ganz blümerant, du Wilder!« Er spreizte seine Finger, an denen die Ringe hingen wie funkelnde Rettungsreifen, ins Unendliche. »Was treibt dich denn so heftig an, mein Schmuckstück du?«
    »Ich gehe auf eine Party. Da tragen alle Tiermasken.« Ich beschrieb ihm die Pittbull-Maske, die Philip getragen hatte.
    »Das habe ich ja noch nie gemacht! Du aber auch!« Er sah ganz bekümmert aus und schüttelte seine Hände wie Rumba-Rasseln. Die Ringe machten eine Menge Krach. »Ich glaube, ich habe was!« Er kam zurück mit einem Ausstellungskatalog des chinesischen Malers Yongbo Zhao, dessen Bild › Revolutionäre Familienporträts (4): Ich ‹ im Schlafzimmer der Frau Stadl hing. Daud schlug den Katalog auf. »Meinst du etwas in der Art? Ein toller Maler. Lebt in München.«
    Mich knurrte der Pitbull der Frau Stadl an. Den sich Philip aufs Gesicht gemalt hatte. Gleich katapultierten seine gewaltigen Hinterpfoten ihn hoch, gegen meine Brust, die Wucht des Aufpralls stieß mich zu Boden, ich fiel auf den Rücken, er schlug mir das Gebiss in den Hals, durchtrennte die Gurgel, die Halsschlagader, die Muskeln, das Genick.
    »Genau das meine ich!«
    »Dann setz dich!«
    Daud brauchte gute zwei Stunden für seine Arbeit. Mitternacht rückte näher, als er den letzten Farbtupfer machte. Ich musste mich auf den Weg zur Party machen.
    »Perfekt!« Er begutachtete mich von allen Seiten und fuhr mir noch mal mit dem Puderpinsel über das Gesicht. Es kitzelte an der Nase. Ich musste niesen. Wir hatten während der Verwandlung viele kleine Espressotässchen geleert, die immer wieder von einem samtweichen Calvados abgelöst wurden. Die Getränke ermunterten uns sehr, wir stießen spitze Schreie aus, stöhnten und röchelten voller Entsetzen über die Maske, die nach und nach mein Gesicht in eine Furcht einflößende Bestie mit fletschendem Gebiss verwandelte.
    »Iiiii Iiiii«, schrillte Daud. »Mein Schnuckelchen will die Zähnchen an mich legen! Du Loser du!« Das Schütteln seiner Hände lieferte orientalisch klingende aufreizende Musik. Die Ringe klackerten im rasenden Taumel. Dazu wackelte er mit den Hüften wie eine entfesselte Bauchtänzerin. Seine Fettröllchen kreisten. »Beiß mich!« Wir hatten viel Spaß. Daud hielt mir einen Spiegel vor. »Und? Gefällst du dir?«
    Ich fletschte mit den Zähnen. Ich sah kolossal bösartig und gefährlich aus. »Mit der Maske kann ich jede Bank überfallen!«
    Daud schüttelte beschwörend seine Hände. »Du kannst die ganze Welt bezwingen! Sie wird bei deinem Anblick wanken! Die Erde wird sich klaftertief öffnen und in die Hölle stürzen.« Er hatte schon immer einen Hang zum Mystischen. Er grinste vergnügt über beide Ohren, als wir uns verabschiedeten. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, welche Höllenfahrt auf mich zukam. Daud wohnte in der Fasanenstraße, direkt gegenüber dem Literaturhaus, aus dem die letzten Gäste tröpfelten. Bis zum Ludwig-Kirch-Platz war es nicht weit. Eine Kirchenglocke schlug halb zwölf. Ich sputete mich.
    Bald befand ich mich in einer Gruppe junger Leute, die alle auf das Gesicht gemalte Tiermasken trugen. Katzen, Hunde, Vögel, Schweine, Kühe, Frösche, Ziegen, Schafe, Füchse, Wölfe. Die Gruppe wuchs schnell.
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