Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Adlon - Verschwoerung

Die Adlon - Verschwoerung

Titel: Die Adlon - Verschwoerung
Autoren: Philip Kerr
Vom Netzwerk:
Kapitel 1
    Es war so ein Lärmen, wie man es aus der Ferne vernimmt und zunächst nicht einordnen kann: ein schmutziger Frachtdampfer, der die Spree hinunterstampft, das Schnaufen einer rangierenden Lok unter dem großen Glasdach des Anhalter Bahnhofs, der ungeduldige Odem eines gewaltigen Untiers - als wäre einer der steinernen Dinosaurier des Berliner Zoos zum Leben erwacht und rumpelte nun die Wilhelmstraße entlang. Was auch immer, der Lärm klang viel zu mechanisch, um menschlich zu sein, um gar wie Musik zu klingen. Da tönten laut die Becken und klingelnden Glockenspiele, und dann endlich sah ich sie - eine Abteilung Soldaten marschierte durch die Straße, als wollte sie den Straßenbelag feststampfen. Allein von diesem Anblick taten mir bereits die Füße weh. Sie kamen die Straße entlang, präzise Bewegungen, die Mauserkarabiner links geschultert, die muskulösen rechten Arme mit der Exaktheit eines Pendels zwischen Ellbogen und adlerverzierter Gürtelschnalle hin und her schnellend, die mit grauem Stahl behelmten Köpfe hoch erhoben und die Gedanken - vorausgesetzt, sie hatten welche - ganz beim Volk, beim Reich, beim Führer - bei Deutschland!
    Menschen blieben stehen und gafften und salutierten dem Fahnen schwingenden Verkehrshindernis - der Bestand eines kompletten Kurzwarenladens aus rotem, schwarzem und weißem Vorhangstoff war hier verarbeitet worden.
    Andere Passanten kamen herbeigerannt, um sich dem Auflauf  mit patriotischer Begeisterung anzuschließen. Kinder wurden auf breite Schultern gehoben oder schlüpften zwischen Polizistenbeinen hindurch, um nur ja nichts zu versäumen. Einzig der Mann direkt neben mir wirkte alles andere als begeistert.
    «Merken Sie sich meine Worte», sagte er. «Dieser schwachsinnige Idiot Hitler plant allen Ernstes einen weiteren Krieg mit England und Frankreich. Als hätten wir beim letzten nicht schon genug Männer verloren. All dieses Hin- und Her-Marschieren macht mich ganz krank! Es mag ja sein, dass Gott den Teufel erfunden hat, aber Österreich verdanken wir den Führer.»
    Der Mann, der diese Worte sagte, hatte ein Gesicht wie der Prager Golem und einen fassförmigen Leib, der auf einen Bierwagen gehörte. Er trug einen kurzen Ledermantel und eine Schirmmütze, die direkt aus seiner Stirn zu wachsen schien. Seine Ohren waren so groß wie die eines indischen Elefanten, sein Schnurrbart erinnerte an eine Klobürste, und seine Kinne waren so zahlreich wie Eulen in Athen. Schon bevor er seinen Zigarettenstummel in Richtung der Blechkapelle schnippte und die Basstrommel traf, hatte sich eine Lücke um diesen unbesonnenen Kommentator herum aufgetan, als wäre er der Überträger einer ansteckenden, tödlichen Krankheit. Niemand wollte in seiner Nähe sein, wenn sich die Gestapo daranmachte, diesen Mann von seiner vermeintlichen Krankheit heilen zu wollen.
    Ich wandte mich ebenfalls ab und ging rasch die Hedemannstraße hinunter. Es war ein warmer Tag gegen Ende September, an dem ein Wort wie «Sommer» mich an etwas Kostbares denken ließ, etwas Kostbares, das wir bald verlieren würden. Genau wie «Freiheit» oder «Gerechtigkeit». Heute skandierte jeder an jeder Ecke «Deutschland erwache!», während ich das Gefühl hatte, dass wir mit beinahe traumwandlerischer Sicherheit auf eine schreckliche Zukunft zusteuerten. Allerdings wäre ich nicht so dumm gewesen, derartige Befürchtungen öffentlich zu äußern - ganz bestimmt nicht, wenn Fremde zuhörten. Ich hatte meine Prinzipien, zugegeben - doch ich hatte auch noch all meine Zähne im Mund.
    «He, Sie da!», sagte eine Stimme hinter mir. «Warten Sie! Ich will mit Ihnen reden.»
    Ich ging weiter, als hätte ich nichts gehört. Ich kam bis zur Saarlandstraße - die Königgrätzer Straße geheißen hatte, bevor die Nazis beschlossen hatten, dass wir alle eine ständige Mahnung an die Ungerechtigkeiten des Vertrages von Versailles und der Beschlüsse des Völkerbunds brauchten -, da holte mich der Typ ein.
    «Haben Sie mich nicht gehört?», fragte er, indem er mich an der Schulter packte, herumdrehte, gegen eine Litfaßsäule drückte und mir eine bronzene Marke unter die Nase hielt. Schwer zu erkennen, ob er tatsächlich zur Staatspolizei gehörte, doch nach allem, was ich über Hermann Görings neue Preußische Polizei wusste, trugen nur die unteren Dienstgrade bronzefarbene Bieruntersetzer mit sich herum. Außer uns beiden war niemand auf dem Bürgersteig, und die Litfaßsäule schirmte uns vor neugierigen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher