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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut
Autoren: Jochen Senf
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Einer hatte sich als ägyptischer Grabwächter verkleidet. Er trug einen Hundekopf, dessen Schnauze spitz zulief. Er hatte die Arme über der Brust gefaltet. In den gefalteten Händen trug er eine brennende Fackel, geformt als Totenstab. Es war jetzt eine richtige Tierherde, die sich auf den Ludwig-Kirch-Platz zubewegte. Es wurde miaut, gebellt, Vögel pfiffen, Schweine grunzten, Kühe brüllten, Ziegen meckerten, Frösche quakten. Es war ein Heidenspektakel. Die besten Tierlaute und Vogeltriller wurden mit Beifall angestachelt, es noch toller trillern zu lassen. Eine Horde Sauen hatte sich unter uns gemischt. Sie grunzten und quiekten um die Wette. Es war urkomisch. Brüllendes Gelächter. Viele trugen Fackeln, deren zuckende Flammen bizarre Schatten warfen, die zwischen den Menschen hin und her sprangen wie Irrwische mit langen, wehenden Mänteln, gewoben aus irrlichternder Dunkelheit.
    Bereits in der Pfalzburger standen die ersten Wannen. Polizisten in voller Montur. Helme, Schutzwesten, Knieschoner, an den Wannen und Bäumen lehnten Plastikschutzschilder. Die Zahl der Polizisten nahm zu, je näher wir dem Ludwig-Kirch-Platz kamen. Ich löste mich aus der Gruppe und nahm ein paar Querstraßen, um mir einen Überblick zu verschaffen. Die Polizei hatte einen dichten Kordon um den Platz gelegt. Die Polizisten wirkten im Feuerschein der Fackeln bedrohlich in ihren Monturen. Die Plastikschilder schimmerten rötlich im Licht der Fackeln. Von allen Seiten strömten immer mehr Menschen mit Tiermasken zusammen und fast alle trugen Fackeln in den Händen. Es miaute, schnalzte, meckerte, grunzte und heulte wölfisch in einem fort. Wie auf Kommando setzten Piccoloflöten ein, Trommeln wurden geschlagen. Die Masken formierten sich zur marschierenden Kolonne. Die Musik war schrill, soldatisch, wild, chaotisch, voller Leidenschaft stieg sie in den nächtlichen Himmel. Fenster wurden aufgerissen, Menschen lehnten sich über die Brüstungen. Ein einziges wummerndes Tosen füllte die Straßen, die Trommeln dröhnten, die Flöten pfiffen wie alle Winde dieser Welt. Ich fühlte mich mitgerissen. Eine einzigartige Kraft bemächtigte sich meiner. So musste es gewesen sein, vor Jahrhunderten, wenn beim Klang der Trommeln und Flöten gemeinsam gegen den Feind angeschritten wurde. Eine Fahne, zusammengenäht aus Bettlaken, wurde geschwenkt. Ein Konterfei von Donald Duck war aufgenäht. Er formte eine Sprechblase: ›Freiheit oder Tod‹. Ich war in einem Traum. Freiheit oder Tod. Dann ertönte das Wummern übermächtiger Bässe. Schlagartig. Die Erde bebte. Die Flöten und Trommeln tobten. Die Polizisten ergriffen ihre Schilder und bearbeiteten sie mit ihren Schlagstöcken. Es war völlig unklar, was sie damit bezweckten. Einschüchterung des Chaos? Es wurde nur furioser. Das alles überflutende, entsetzlich lärmende Getöse einer Schlacht wälzte sich von allen Seiten lindwurmartig auf den Ludwig-Kirch-Platz zu. Ich dachte an Dauds Worte. › Die Erde wird sich klaftertief öffnen und in die Hölle stürzen. ‹ Wir waren vor dem großen Mietshaus angelangt, das ich und Barbara unter denkwürdigen Umständen geerbt hatten. Aus Fenstern flammten große Scheinwerfer. Das Licht brandete wie eine gigantische Welle auf uns zu. Schlagartig hörte der Schlachtenlärm auf, die Bässe verebbten, die Polizisten zogen sich mit ihren Schilden zurück, das gleißende Licht stand gebündelt in der Nacht wie ein silbriger Eisblock, nur einzelne Lichtfinger verirrten sich zwischen den Bäumen, unterwanderten die Bänke im Park und zuckten erschreckt zurück vor den eigenen Spiegelungen in den Fensterscheiben der umliegenden Häuser und Geschäfte, als träfen sie auf Gespenster, die ihnen entgegensprangen.
    Die Tiermasken leuchteten hell. Die Fackeln brannten. Kleine, zitternde Flammen, die mit ihren rußigen Zungen an dem Eisklotz aus gebündeltem Licht leckten. Die Scheinwerfer erloschen mit einem Schlag, so, wie sie aufgeflammt waren. Der Schlachtenlärm war in sich zusammengefallen. Es herrschte Totenstille. Dunkel lag das Haus vor uns. Eben spuckte es noch Lichtkaskaden. Jetzt huschte das nervöse Flackern der Fackeln über die Fassade. Alle starrten gebannt auf das Haus. Es war leer. Bis auf Philip. Er war der Hexenmeister, der sein Spiel inszenierte. Bis jetzt war es nur Vorspiel. Die große Vorstellung stand erst noch bevor. Vielleicht gab es noch Zwischenspiele. Ich schaute mich um nach Barbara und der Kommissarin. Mit Sicherheit waren sie da.
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