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Mein Ist Die Nacht

Mein Ist Die Nacht

Titel: Mein Ist Die Nacht
Autoren: Andreas Schmidt
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    Prolog
    Als er erwachte,
spürte er dieses unbestimmte Verlangen. Gier beherrschte sein
Denken und Handeln, als er aufstand und an das Fenster trat. Die
Dunkelheit hatte sich wie ein Leichentuch über die verfallenen
Gebäude der Stadt gesenkt. Er hatte lange geschlafen und war
erst am Abend erwacht. Während er durch das fast staubblinde
Fenster hinaus in die Nacht blickte, stellte er fest, welch
düstere Wolken sich vor den Mond geschoben hatten. In den
letzten Stunden hatte Schneefall eingesetzt, und die Stadt schien
unter einer unsichtbaren Schallglocke zu stecken. Es war totenstill
draußen, und er versuchte sich daran zu erinnern, wann es
zuletzt im November geschneit hatte.
    Heute Nacht war es
endlich so weit.
    Er würde dem
Verlangen nachgeben. Tun, was er tun musste.
    Lange hatte er auf
diesen Tag hingearbeitet. Wochenlange Arbeit lag hinter ihm, und
nun würde er die Früchte seiner Mühen ernten
können. Ein teuflisches Grinsen huschte um seine blutleeren
Lippen, als er sich abwandte und ruhelos durch die Räume
schlich. Er war zu einem Wesen der Nacht geworden und er war
sicher, dass sich sein Wille, so zu leben, heute Nacht
manifestierte. Komplett aufgegeben hatte er sich in den letzten
Wochen. Für verrückt hatte man ihn erklärt, ein Arzt
hatte ihn sogar einweisen wollen. Er hatte sich enttäuscht und
verbittert zurückgezogen. Dann würde er sein Ziel eben
anders erreichen.
    Nein, er war nicht
verrückt.
    Er war anders.
    Lange hatte er nach
einer geeigneten Räumlichkeit für sein Vorhaben gesucht
und sie schließlich in einer leerstehenden Fabrikhalle am
Ufer der Wupper gefunden. Der Besitzer hatte das Gebäude
offenbar längst aufgegeben, und so ruhte die alte Fabrik in
einer Art Dämmerschlaf und wartete darauf, ihm für seine
große Tat zur Verfügung zu stehen.
    Niemand interessierte
sich mehr für das verfallene Gebäude, hier war seit
Wochen niemand mehr gewesen. So hatte er sich die Räume im
oberen Stockwerk der alten Fabrik für ein ungestörtes
Treffen hergerichtet. Meist hatte er nachts gearbeitet, wenn alle
schliefen und das Viertel noch verlassener war, als es
tagsüber der Fall war. Die Nacht war seine Zeit, lange schon
nicht mehr der Tag. Einem Schatten gleich, glitt er durch die
einsame Halle, die von Zwischenwänden zu kleineren Räumen
abgetrennt worden war.
    Er war ein
Geschöpf der Finsternis geworden.
    Nun hatte er den Raum
erreicht, in dem es heute Nacht geschehen würde. Eine fiebrige
Erregung ergriff von ihm Besitz, als seine Finger beinahe liebevoll
über das kalte Leder der Bahre glitten. Hier würde sie
schon in ein paar Stunden liegen und ihm gehören. Sie wusste
ja nicht, worauf sie sich einließ. Er spürte die feinen
Vertiefungen des Leders an seinen Fingerkuppen und
erschauerte.
    Mit einem Ruck wandte
er sich ab und trat wieder an eines der hohen Fenster, die mit
eisernen Sprossen in kleine gläserne Felder unterteilt waren,
und blickte hinaus. Um diese Zeit verirrte sich kaum ein Mensch in
dieses Viertel. Niemand wusste, dass er hier hauste, sogar
Obdachlose hatten schlicht Angst davor, eine Nacht in diesem
unheimlichen Gebäude zu verbringen, in dem das Dach teilweise
undicht war und nachts Ratten über den Boden huschten und die
Räume mit ihrem schrillen Fiepen erfüllten, stets auf der
Suche nach Beute.
    Nein, hierhin trieb es
niemanden freiwillig.
    Normalerweise.
    Doch die Hallen mit
den hohen Decken waren wie geschaffen für seine Arbeit. Als er
den Raum durchschritt, hallten seine Schritte von den schwarz
gestrichenen Wänden zurück. Er liebte den morbiden Charme
dieses Stadtteils. Leerstehende Gebäude, heruntergekommene
Wohnblöcke und verlassene Fabriken. Kneipen, die schon vor
Jahren für immer geschlossen hatten. Seit langem ging das
Gerücht um, dass hier bald die Abrissbirne zum Zuge kommen und
die geschichtsträchtigen, aber baufälligen Gebäude
am Ufer der Wupper dem Erdboden gleich machen würde.
Wahrscheinlich würden sie hier ein weiteres Einkaufszentrum
errichten. Oder ein Parkhaus, vielleicht auch beides.
    Doch noch war es nicht
so weit.
    Wer hier nach Einbruch
der Dunkelheit durch die engen Straßen schlich, der konnte
sich kaum vorstellen, dass kaum einen halben Kilometer weiter das
Leben der Großstadt brodelte. Einkaufspassagen, hektische
Menschen, die auf der Suche nach einem Geschenk waren. Das
Weihnachtsfest, für ihn die größte Lüge der
Menschheit, stand bevor und beherrschte das Denken und Handeln der
Sterblichen. Jedes Jahr
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