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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
Autoren: Richard Lorenz
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er die Grillen zirpen hören, der magische Klang seiner Kindheit. Er sah auf seine Armbanduhr, kurz nach Mitternacht. In den Sommermonaten schlief er schlecht. Sein Arzt meinte, es würde an seinem Übergewicht liegen, aber daran glaubte er nicht. Vielmehr glaubte Leonard, dass es an der Stadt lag, an den verwinkelten Straßen, an den hohen Bäumen mit den schweren Wipfeln, aus denen in den Sommernächten Stimmen drangen. Immer und immer wieder, unaufhörlich. Erst ein kaum merkliches Flüstern, dann ein Summen und schließlich Gesänge, weit weg und doch nahe, wie der seufzende Klang von Walfischen aus der Tiefe des Meeres.
    Der Wunsch eine Zigarette zu rauchen, das beruhigende Zischen eines Feuerzeugs zu hören war stärker geworden. Seit damals, seit der Allerheiligennacht vor dreizehn Jahren, rauchte Leonard. Eine Zeit lang hatte er versucht, auf eine leichtere Sorte umzusteigen. Schon nach zwei Tagen hatte er es aber wieder aufgegeben. Er erinnerte sich an die Murr-Zigaretten, die sein Vater geraucht hatte. Nicht viele, vielleicht drei, vier Stück am Tag. Er sah die Packungen immer noch in den Schubladen herumliegen, der Kometenschweif darauf, die rote Schrift unvergessen. Manchmal trug sein Vater die Schachtel mit einem Briefchen Streichhölzer in der linken Brusttasche seines Hemdes, so dass der Komentenschweif durch den Stoff zu sehen war. Darunter aber, in seinem Herzen, leuchtete kein Komet, soviel stand fest. Während der Sarg in die feuchte, modrige Erde hinabgefahren war, hatte sich Leonard gefragt, wer dieser Mann gewesen war. Viel wusste er nicht über ihn. Eigentlich so gut wie nichts. An Sonntagen war er manchmal im Vorgarten gestanden und hatte in die Ferne geblickt, die Arme herabhängend, die schwieligen Hände zu Fäusten geballt. Zweierlei Stimmen trug sein Vater in sich: Eine Stimme war leise, sie klang so, wie wenn man mit einem kranken Hund spricht, den man ins Auto lockt, um ihn dann am Waldrand zu erschlagen. Gütig, leise und bedacht. Kein falsches Wort, kein falscher Ton. Laut und hässlich aber war die andere, die wirkliche Stimme. Sie drang aus dem Schlafzimmer seiner Eltern, nachts, wenn sein Vater glaubte, der Junge würde schlafen. Wenn er seine Frau bestrafte, dafür, dass sie einen Idioten zur Welt gebracht hatte.
    Als Kind war das Leben, Leonards Leben, merkwürdig gewesen. Die anderen Kinder hielten ihn für bescheuert, eine Zeit lang ging er sogar auf eine Sonderschule. Er war langsamer gewesen, in allem. Er hatte viel Zeit und Ruhe gebraucht, um die Welt um ihn herum zu verstehen. Aber im Oktober 1986 hatte sich alles geändert, jedenfalls für ihn. Seit damals wusste er, dass er nicht bescheuert war, dass er etwas gut konnte, besser als die anderen. Er konnte Dinge sehen, die anderen verborgen blieben. Die Welt um ihn herum war auf einmal klar geworden, der Nebel war verschwunden, und Leonard verstand.
    Die Treppe führte in den Keller. Zwei kleine Räume, feucht und kalt. Eine Neonröhre summte, das Licht darin flackerte. Leonard ließ sie immer brennen, einmal im Jahr tauschte er die Röhre aus, bevor sie kaputt gehen konnte. In einem Raum stapelten sich Dinge, unnötiger Kram, den er jedoch nicht wegwerfen wollte. Zwei alte Schreibmaschinen, ein Fahrrad, drei Lampen. Der andere Raum war so gut wie leer. Eigentlich gab es dort nur einen Schreibtisch, einen alten Stuhl und die blauen Müllsäcke. Leonard setzte sich und schloss die Augen. Es gab nur wenige Tage, an denen er nicht hierher kam, hierher kommen musste. Es gab Nächte, an denen er vier-, fünfmal nach unten ging.
    Denn Karla war hier.
    Leonard dachte oft an sie. Fragte sich, wie sie wohl aussehen mochte. Ob ihre Haare immer noch wie das Gold der Herbstsonne glänzten. Natürlich hatte er gehört, dass sie sehr krank war. Wachkoma nannte man das. Tag und Nacht schlafen, bis man stirbt und ewig schläft.
    Leonard zog die oberste Schreibtischschublade heraus, entnahm eine Packung Camel, ein Feuerzeug und einen Aschenbecher. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief. Durch den Kellerschacht konnte er einen Hund bellen hören. Die Bilder des Hauses wurden immer klarer, so als wäre er dort aufgewacht und nicht in seinem. Dann tat er das, was er jedes Mal tat. Mit der Zigarette im Mundwinkel öffnete er die unterste Schublade, und das Mondlicht fiel auf deren Inhalt.

Magdalena
     
    Magdalena blieb stehen. Sah sich um, horchte. Die Sommergrillen sangen an den Ausläufern der Stadt. Sie mochte das. Es war ein
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