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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
Autoren: Richard Lorenz
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Mutter Angst gehabt, einen Zug zu verpassen:
     
    Er wollte dich umbringen.
    Deshalb habe ich das andere zugelassen.
    Es tut mir leid.
     
    Magdalena blieb zwei Stunden lang in der Küche. Sie las die Zeilen wieder und wieder, kochte Kaffee, suchte nach Schnapsresten im Schrank, während ein Schlager nach dem anderen durch das Haus klang.
    Auch daran musste sie jetzt denken. Daran, dass sie weder traurig noch froh gewesen war, sondern einfach nur ein höflicher Besucher jenes Hauses mit der toten Frau im Badezimmer. Ihr Elternhaus stand immer noch leer. Manchmal ging sie dorthin, um durch die Zimmer zu gehen, sich auf einen Stuhl zu setzen und sich zu fragen, wie sie wohl groß geworden war in diesen kleinen Räumen.
    Das Fenster über ihr wurde hell. Magdalena blieb stehen und zog ein Stück Kreide aus ihrer Jackentasche. Sie schrieb einen Namen auf die verwitterten Ziegelsteine der Fassade. Manchmal waren die Namen stark, manchmal waren sie schwach. Das Licht erlosch, und Magdalena ging weiter.

Leonard
     
    Er nahm das Buch aus der Schublade und legte es auf den Schreibtisch. Die Zigarette verglühte im Aschenbecher, aber das war nicht wichtig. »Die Weihnachtsgeschichte« von Charles Dickens – Leonard hatte das Buch über all die Jahre aufbewahrt. Charlie hatte es in Murrs Zigarettenfabrik vorgelesen. Bevor sie nach Hause gegangen waren, hatte es Leonard unter seine Jacke geschoben und Charlie umarmt. Vor drei Jahren war Charlie bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seine Stimme aber konnte Leonard immer noch hören, sie drang aus dem Buch, sobald er es aufschlug. Karlas Name darin verblich. Mit Kohlestift hastig niedergeschrieben, die Buchstaben von schweißnassen Händen verwischt. Einige Seiten flatterten wie Gebetsfahnen im Atemwind.
    Jede Liebe muss bewiesen werden, dachte sich Leonard auch in dieser Nacht. Er lächelte, dann weinte er.
    Es gab Zeiten, da war alles richtig. Und es gab Zeiten, da war alles falsch. Das ganze Leben sogar. Jeder Atemzug. Aber wenn die Zeit richtig, wirklich richtig war, wusste Leonard genau, was er tun musste. Meistens während des Übergangs zwischen Spätsommer und Herbst, der Regen am Himmel stehend, an den Tagen, an denen die Sonne seinen eigenen Schatten um ihn herum jagte. Dann fuhr er mit dem Zug nach München, und je näher er kam, desto ängstlicher wurde er. Die Knochen zitternd, die Augen wässrig. Das Buch in seinen Händen eine Wünschelrute, die ihm helfen sollte, das zu finden, was er so verzweifelt suchte.
    Er strich mit dem Handrücken über die Augen, schniefte. Zog eine weitere Zigarette aus der Packung, drehte sie in seinen Fingern und zündete sie an. Wenn er so weiter machte, würde der Krebs auch ihn erwischen.
    Karla. Ein magischer Name. Ein wunderschöner Name.
    Er vermisste sie so sehr. Von Zeit zu Zeit glaubte Leonard, ihre Träume spüren zu können wie das Flattern der Schmetterlinge an windstillen Sommertagen.
    Er blickte auf. Längst schon hatte er aufgehört, die Blätter zu zählen. Es waren einfach zu viele. Zwei große Müllsäcke waren noch vom letzten Jahr übrig, die Blätter darin konnte er riechen. Herbstfeuer und Papierdrachenduft, alles war darin verborgen. Auch an Tom und Magdalena musste er denken. Ihre Wege hatten sich getrennt, schon kurz nach dem Unwetter. Soviel er wusste, arbeitete Magdalena im Krankenhaus Sankt Martin und Tom in der Bücherei, einem Ort, den kaum jemand aufsuchte. Auch Leonard war noch nie dort gewesen.
    Er arbeitete für Philipp Morris, fuhr Zigarettenstangen durch die Gegend und tat somit das, was schon sein Vater getan hatte. Manchmal befüllte er die immer weniger werdenden Zigarettenautomaten an Straßenecken, in Cafés oder sonst wo. Wenn er das tat, konnte er jede einzelne Schachtel in Ruhe betrachten. Natürlich suchte er immer noch nach der Karte mit der Hexe, der geheimnisvollen Sammelkarte von 1973, von der er als Kind zum ersten Mal gehört hatte. Dann fühlte sich das, was er tat, richtig an, wenngleich er wusste, dass er sie niemals finden würde. Aber das war nicht wichtig. Er tat es für Karla, in der Hoffnung, sie würde dann endlich aufwachen.
    Auch die Sache mit dem Baum tat er für Karla. Die Leute hielten ihn für verrückt, auch wenn sie es ihm nicht ins Gesicht sagten. Seine Nachbarn nickten ihm zu, wenn er sie zufällig traf, aber Leonard spürte, dass sie Angst vor ihm hatten. Die Art von Angst, die man vor Verrückten und Entrückten hat – das wiederum verstand er nur zu
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