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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
Autoren: Richard Lorenz
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hatte man diese Leichen nahe der Kirche vergraben, nachdem man ihnen das Herz herausgeschnitten und den Kopf abgetrennt hatte. Die Herzen in Leintüchern gewickelt, in Weidenkörbe gelegt. Einmal im Monat sei der Pfarrer mit diesem Weidenkorb nach Altötting gefahren, um sie mit Weihwasser von allen Sünden reinzuwaschen. Ob es tatsächlich stimmte, dass man danach die Herzen im Pfarrhof über einem heiligen Feuer der Sterbekreuze gebraten und gegessen hatte, wusste Frank nicht. Aber er wusste sehr wohl, dass es nicht unwahrscheinlich war. Heute gab es im Keller nur noch Regale und alte bemalte Heiligenfiguren aus Gips, die längst an Farbe verloren hatten. Der jetzige Pfarrer Heller, ein saufender Dummkopf, wusste vermutlich nicht einmal davon. Manchmal hatte Frank das Gefühl, der Priester fürchte sich vor diesem Ort, Franks Ort, der Leichenhalle. Zwischen Staub und Mäusedreck hatte Frank seine Sachen im Keller verstaut. Dinge, die er mochte, die ihm gefielen. Wertlos das meiste davon, sicherlich. Das Blechbüchsentelefon lag auf der oberen Ablage, die Schnur hing wie eine schlafende Schlange herunter. Vorsichtig nahm er es in die Hände, rieb es an seinem Hemd.
    »Und heute nur für Sie: Big Time, Swing Time!«, flüsterte Frank in eine der Blechdosen. Keine Antwort.
    Frank kicherte.
    Noch nicht.

Erinnerungen
Sommer 1999
     
    Arik betrat das Zimmer und ihm wurde sofort schwindlig. Als säße er in einem Riesenrad, das ruckelnd zum Stehen kommt, an der höchsten Stelle, nahe den Wolken. Er roch Tabak, Kaffee und Sandelholz. Berührte den Schreibtisch mit den eingeritzten Buchstaben. Betrachtete die bis zur Decke gestapelten Schachteln und Kisten.
    »Es ist richtig«, sagte er leise.
    Christoph nickte.
    Aus dem hinteren Zimmer hörten sie den blechernen Klang des Windspiels, das im Fensterrahmen hing. Spürten den Wind, der sanft durch die Räume strich und vom Kinderland berichtete.
    »Erzähl mir davon.«
    Arik blickte zu Christoph. Er fragte sich, wie alt er sein mochte. Draußen auf der Veranda hatte Arik noch geglaubt, er sei ein alter Mann, weit über fünfzig Jahre alt. Aber jetzt war er sich nicht mehr sicher. Es waren die Augen, die ihn überraschten. Hell, klar und warm, die Augen eines Jungen. Ein Schauder zog über Ariks Rücken, verblieb eine Sekunde und verschwand wieder. Er ging an der Wand entlang, die Kisten im Blick.
    »Wovon?«
    »Von dem Traum. Du weißt schon. Dem Traum der Träume. Es gibt ihn.« Christoph setzte sich an den Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an.
    Arik blieb vor dem Fenster stehen. Von hier aus sah das Löwenzahnfeld wieder überschaubar aus, wie ein kleiner Garten. Er fühlte sich besser, beinahe wohl, jedoch ohne Ruhe im Herzen. Dann fiel ihm der wiederkehrende Traum ein. Sein Mund wurde trocken.
    »Woher ...?« Ariks Stimme brach. Er fühlte sich wie ein Junge, den man beim Stehlen erwischt hatte.
    Christoph schüttelte den Kopf und lächelte. »Versteh mich nicht falsch. Ich kann keine Gedanken lesen, jedenfalls nicht so, wie du gerade denkst. Aber mit diesem Traum ist es wie mit ...« Christoph suchte nach den richtigen Worten, seine Lippen bewegten sich, hielten inne, dann, ein neuer Versuch. »Zwischen den Namen, von denen ich träume, ist etwas. Es hat mit Sara zu tun, aber auch mit Karla. Als würden sich zwei Bilder aufeinander legen, verstehst du? Ich kann es nicht richtig beschreiben, nicht einmal darüber schreiben kann ich.
Trage tapfer fort mein Herz
– das ist alles.«
    Eine Wolke zog vor die Sonne, das Licht veränderte sich. Schattenmalereien.
    Arik schloss die Augen und sagte: »Es sind die Herzen.«
    Christoph hob den Kopf. Sein Blick wurde ernst. »Die Herzen?«
    »Ja, die Herzen. Es sind keine Bilder, die sich aufeinanderlegen, sondern Herzen. In Karla ist irgendwie Sara. Ihr Herzschlag jedenfalls. Sie haben einen gemeinsamen Ort. Wenn ich neben meiner Schwester liege und einschlafe, also kurz vor dem Einschlafen, dann kann ich diesen Ort manchmal spüren. Sehen.«
    Die Zigarette in Christophs Hand zitterte. Er nahm einen tiefen Zug, dann drückte er sie im Aschenbecher aus, ein leises Knistern, dann Stille.
    »Es ist dieser kurze Moment vor dem Einschlafen, wenn man Angst hat, zu fallen. Wenn man erschrickt. Dann sehe ich sie.«
    »Du siehst Sara?« Christoph schluckte. Seine Augen brannten.
    »Im Traum weiß man alles, so ist es doch.«
    Christoph zog die Schublade auf und holte eine Fotografie hervor, zeigte sie dem Jungen.
    »Ja, das ist
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