Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
Autoren: Richard Lorenz
Vom Netzwerk:
für sie am Radiogerät«, murmelte Franks Bruder und kicherte. Seine Stimme tief und geheimnisvoll. »Balthasar.« Frank musste weinen, als er den Namen aussprach. Der Schatten, von dem er geglaubt hatte, er würde ihn erkennen, wurde zu einer Fotografie. Das Dunkle verschwand, entwich für immer.
    Sein Bruder. Vier Jahre älter war er gewesen. Der große Junge mit den schwarzen Haaren und dunklen Augen, mit der Hasenscharte und der feinen Narbe auf der linken Wange. Vaters Gürtelschnalle hatte ihn dort getroffen. Frank schloss die Augen. Ein Herbsttag, verregnet und winterkalt. Balthasar hatte die Haustür nicht richtig verschlossen. Der Wind stemmte sich dagegen und drückte sie auf. Vater wurde wütend. Sehr wütend. Beide Jungs liebten das Radiogerät in der Küche, unter dem Herrgottswinkel. Einschalten durften sie es nur, wenn Vater nicht im Haus war. Wenn er unterwegs war, um Reparaturarbeiten zu verrichten. Damit verdiente er sein Geld, deshalb war er auch oft im Murr-Haus gewesen, meistens in den Wintermonaten. Frank erinnerte sich, wie er und sein Bruder einmal bei der Kirche gestanden und zum Murr-Haus gesehen hatten. Der erste Schnee war noch frisch. Sie beobachteten, wie ihr Vater auf dem Dach kaputte Schindeln austauschte und den Kamin reparierte. Ein winziger schwarzer Punkt in der Ferne. Ohne es auszusprechen, hatten sich beide Kinder gewünscht, dass er einfach ausrutschen würde, dass der winzige Punkt in der Ferne verschwinden würde. Aber natürlich geschah nichts. Frank dachte an seine kleine Schiefertafel, die an den Ecken aufgesprungen war. Mit einem kleinen Kreidestück hatte er seinem Bruder Sätze für das Radiogerät geschrieben. Sachen wie:
Und jetzt: Swing-Zeit für Swing-Füße!
oder:
Haben Sie Mundgeruch? Dann rauchen Sie Murr-Zigaretten!
Balthasar hatte seinen Daumen ausgestreckt und in sein Fingermikrofon gesprochen. So leise, dass man es kaum verstehen konnte, aber das war egal, denn es gab zweierlei Stimmen: eine, die aus Balthasars Mund kam, und eine, die in Franks Kopf existierte. Mit tobendem Publikum und klatschenden Händen, mit Big-Band-Musik und Frauen in purpurnen Kleidern.
    Franks Blick war nun auf den Friedhof gerichtet. Seine Wangen waren tränennass. Balthasar war keiner von diesen Dummköpfen gewesen. Kinder, die Nasenpopel aßen oder Frösche an ein Fahrrad banden. Balthasar sah die Welt anders – er veränderte auch Franks Sicht auf das Leben. Frank überfiel erneut das Gefühl, dass er es schaffen konnte. Ein Traum kann wahr werden, wenn man nur fest daran glaubt, wenn man ihn nicht loslässt, ihm zuhört und ihn vor den Zweifeln beschützt.
    Ein dreiviertel Jahr später war Balthasar eines Tages nicht nach Hause gekommen. Die Mutter hatte es schon am frühen Nachmittag geahnt, hatte vor dem Haus gewartet, den Rosenkranz zwischen den zittrigen Fingern. Zum frühen Abend hin war sie dann auf die Suche gegangen. Weinend und allein kam sie zurück.
    »Der ist doch zu Hause«, hatte Vater gesagt. In seiner Stimme unterdrückte Wut.
    »Balthasar ist zu Hause?« Mutter, die ihre Augen weit aufreißt.
    »Wer? Von wem sprichst du?«
    »Von unserem Kind.« Heiseres Flüstern.
    »Ein Balg reicht. Und jetzt ist Ruhe. Aus. Amen!«
    Man fand ihn am nächsten Morgen im Getreidesilo zwischen den Maisfeldern, zog ihn an den Beinen heraus, bis er in einer breiten Ackerfurche lag und mit leblosen Augen zum Himmel blickte. Dann brachten sie ihn nach Hause. Zwischen Küche und Flur lag er einen Tag lang aufgebahrt, in dem neuen weißen Hemd, das ihm Mutter gekauft hatte.
    Frank ging zurück in sein Zimmer. »Und als nächstes: Balthasar Stettler mit seiner neuen Radio-Sendung!«, flüsterte er in sein Daumenmikrofon. Tränen und Lachen. Beides ein großer Schmerz.
     
    Verlorene Träume atmen weiter. Leise, unbemerkt, aber dennoch tun sie es, tief im Innern der Menschen versteckt. Sie gehen für eine Weile fort, um wachsen zu können. Und eines Tages kommen sie zurück. Darüber dachte Frank nach, als er am Tisch saß, die schmale Blechbüchse mit den zerbrochenen Zigaretten geöffnet. Eine abgelegte Zigarette glomm auf einer Untertasse, in einem Becher dampfte starker Kaffee. Eine Bierflasche war geöffnet, doch Frank hatte nichts getrunken. Es wäre falsch gewesen, denn er musste wach bleiben. Wacher als je zuvor in seinem Leben. Er schlug mit der flachen Hand auf seinen nackten Oberschenkel und schüttelte den Kopf. Neben seinem Bett auf der umgedrehten Obstkiste stand ein altes
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher