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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
Autoren: Richard Lorenz
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Kinder von 1986 sind erwachsen geworden. Viele von ihnen zogen weg von hier. Ich hätte dasselbe getan.
    Was halten Sie von dem Gedanken, dass Menschen andere Menschen so stark beeinflussen können, dass sie sich verändern? Ich glaube daran. Wenn Sie ein Mädchen vor dem Ertrinken retten, dann verändern sich zwei Leben. Nichts wird mehr so sein wie vorher. Ich glaube, das funktioniert auch mit Träumen. Jedenfalls, wenn die Träume stark und hell genug sind.
    Wir werden gleich Thomas, Leonard und Magdalena begegnen. Von Karlas Bruder werden wir auch hören. Geschwisterherzen können außerordentlich stark sein. Stärker als Löwenherzen.
    Wir kommen dem Wunder näher. Haben Sie noch ein wenig Geduld. Das Jahr 1999 war eine Zeit, in der man vor allem eines haben musste: Geduld.
    Denn zur Erlösung ist es ein weiter Weg.

Die verlorenen Erwachsenen
Sommer 1999
     
Tom
     
    Thomas Dobler, den früher alle Tom genannt hatten (heute tun das nur noch wenige, manchmal seine Frau), hatte mehrmals versucht, der dunklen Stadt und ihren noch dunkleren Träumen zu entkommen. Den alten VW-Bus mit den Rostflecken an beiden Türseiten vollgestopft mit allem, was er finden konnte, auf schmalen Straßen unterwegs, weg von dort. Aber schon im ersten Motel, ein flackerndes Werbeschild mit gebrochenen Neonröhren über dem Fenster, hatte ihn dieses Gefühl von Übelkeit eingeholt. Tom kannte es nur zu gut. Selbst auf kleinen Booten und ruhigem Wasser musste er sich nach nur wenigen Minuten übergeben. Kalkweißes, verschwitztes Gesicht, das ihn aus dem fleckigen Spiegel über dem dreckigen Waschbecken anstarrte. Noch ein paar Stunden Fahrt, und er hätte ein neues Leben erreicht. Ein Leben fernab der alten Geschichten und der alten Träume; ein neues Leben hinter den Augen, die so viel gesehen hatten. Zu viel.
    Jeden Tag dachte er daran. Es hätte alles anders kommen können, wären sie zusammen auf den Grabhügel gegangen, hätten das Murr-Haus erreicht. Aber ohne Karla hatten sie keine Chance. Sie war der Magnet, der alles Unheil angezogen und somit von ihnen ferngehalten hätte. Weiß Gott, wie sie zurückgekommen waren, das Gewitter über ihren Köpfen niederbrechend. Aber sie hatten es geschafft, trotz der grellen Kinderstimmen in den Häusern, trotz der Augen, die sie anstarrten aus der Dunkelheit, trotz der schmatzenden Geräusche aus den finsteren Winkeln der Gassen. Sie waren zurückgekehrt in die Fabrikhalle, in der es immer noch nach Tabak roch. Dort hatten sie sich versteckt, bis alles vorüber war, inmitten der anderen Kinder, beschützt und doch allein. Regen, Hagelkörner und Gespensterknochen an den großen Fenstern klopfend, um Einlass flehend. Die Erinnerung daran war verschwommen, aber immer noch klar genug. Wie oft hatte er sich gewünscht, alles zu vergessen. Jeden Tag.
    1986 waren viele ums Leben gekommen, die Leichenhalle auf dem Friedhof war überfüllt gewesen. Über eine Woche lang Begräbnisse, die Totenglocken läuteten jede volle Stunde, sonst Stille. Keiner sprach über die Toten, nur der Pfarrer fand die üblichen Worte des Abschieds, der Rest schwieg, wollte es hinter sich bringen, alles vergessen. Mit dem ersten Schnee verlor die Stille die Bedrohlichkeit und brachte den Menschen die ersehnte Ruhe, eine Ruhe, die in Wahrheit keine war. Aber sie half, das Leben wieder aufzunehmen und die Geister für eine Weile zu besänftigen.
    Erst Anfang Februar war die Polizei in die Stadt gekommen, vier Dorfpolizisten, die vor einem Rätsel standen, einem Rätsel ohne Antwort. Massenselbstmord, hieß es schließlich, ausgelöst durch eine Massenhysterie aufgrund des schlimmen Unwetters. Ein, zwei Zeitungsmeldungen, mehr nicht. Man sprach nur noch leise darüber, in kalten Stuben und zugigen Gassen.
    Natürlich hatte Tom davon erfahren, was Karla zugestoßen war. Viele Tage, an denen er vor dem Krankenhaus, später vor ihrem Elternhaus stand und hineingehen wollte. Aber er tat es nie. Damals hatte er von ihr geträumt, Träume wie ein Nachbeben, das man dumpf vibrierend in den Knochen spürt. Undeutliche, zerrissene Episoden, die er nicht verstehen und in Zusammenhang bringen konnte. Geschichten von weit weg, aus einem anderen Land, aus einem anderen Leben. Die Träume waren weniger, leiser geworden, als sein Körper und Geist erwachsen wurden. Heute war Tom siebenundzwanzig Jahre alt und träumte nicht mehr von ihr (jedenfalls konnte er sich an keinen Traum erinnern), von Karla, dem Allerheiligenmädchen, ihrem
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