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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
Autoren: Richard Lorenz
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Mädchen, ihrer Königin. Manchmal hörte er, dass es ihr wieder schlechter ginge und dass sie wieder einmal im Krankenhaus sei, darin gefangen die Angst, dass Karla sterben würde. Dinge, die man auf der Straße zu hören vermochte, wenn man stehen blieb und die Worte einfing. Kein Mensch glaubte mehr daran, dass sie jemals wieder aufwachen würde. Nicht nach so langer Zeit.
    Vor einigen Monaten hatte sich Tom einige Bücher ausgeliehen – Fachbücher über das apallische Syndrom, einige Angehörigenberichte und eines über Wunderheilungen (mit einer Gebetstafel auf der Rückseite). Er war im Wohnzimmer gesessen, die aufgeschlagenen Bücher auf dem Fußboden und auf seinem Schoß, und hatte geweint. So sehr, dass seine Frau von oben aus dem Schlafzimmer gerannt kam.
    Karla hatte ihr Leben für das ihres Bruders gegeben, das ahnte er, spürte er. Sie war nicht gestorben, aber ihr Herz war ein anderes geworden. Versteckt, begraben und nur leise schlagend. Tom konnte sich nicht an den Namen ihres Bruders erinnern, aber manches Mal sah er ihn durch die Straßen auf seinem zu großen Fahrrad fahren, als würde er sie suchen. Von seinem Büro aus konnte Tom auf die Straßen blicken, dem langen Asphaltstreifen folgend, der sich an der Kirche teilte und zum Grünen See führte. Eine schmal werdende Asphaltzunge, wildes Gras an den Rändern, das niemand schnitt. Frostmulden, die niemand ausbesserte. Eine verlorene Straße nahe des Kinderlandes.
    Schon lange hatte er den Namen nicht mehr gehört: Kinderland. Wenn er ihn leise aussprach, klang er merkwürdig fremd. Niemand betrat mehr das Kinderland, ein verwunschener Platz, ein geheimnisvoller Ort mit Fledermausflattern und Werwolfspuren. Die Bäume kahl an den obersten Stellen, die Vögel stumm auf den Zweigen, als lauschten sie dem Flüstern der ruhelosen Seelen.
    Das Leben nach dem Unwetter hatte sich verändert. Die weiten Straßen schmaler, die hellen Wege dunkler. Die Bäume höher und die Gespenster darin verwegener. Die Ratten tot oder auf der Flucht in eine andere Stadt. Als Tom am Allerheiligenmorgen nach Hause gekommen war und er seine Eltern in der Küche sitzen sah, der Linoleumboden nass und aufgequollen, hatte er ihre Angst gespürt. Zum ersten Mal in seinem Leben ahnte er, dass ihre Angst mächtiger war als seine. Vor allem die seines Vaters, der seinen Sohn ansah, als würde er herausfinden müssen, ob man diesem Jungen noch trauen konnte.
    Draußen Stille. Die Herzen schlugen leiser. Sie pochten ohne Hoffnung. Das Böse darin verklungen im Sturm der vergangenen Nacht.

Leonard
     
    Vor einigen losen Geisterträumen hatte es begonnen. Daran konnte sich Leonard Bloch sehr gut erinnern, in einer späten Julinacht, schwül und drückend. Der Mondhimmel, den er von seinem Bett aus sehen konnte, war übersät von Sternen, keine einzige Wolke. Aufgewacht aus einem stummen Traum saß er im Bett und dachte nach. Zu gerne wäre er aufgestanden und hätte sich ans Fenster gesetzt, um eine Zigarette zu rauchen, um Stille zu finden. Auf dem Schreibtisch lag die Packung. Er hatte sich vorgenommen, weniger zu rauchen, und an diesem Tag waren es schon beinahe zwei Schachteln gewesen. Er war aufgewacht und hatte an das Haus gedacht, in dem er nie gewesen war, das er in seinen Träumen aber oft besuchte, in der Nase der Geruch von alter ungewaschener Bettwäsche und dem Staub auf den Bücherregalen. Dieser Geruch verstärkte die Erinnerung an damals, so wie nackte Papierbögen in Entwicklerflüssigkeit lebendig werden, eingetunkt von Geisterhänden. Er hatte an das Zimmer gedacht, war die Treppe hinaufgestiegen, hatte in die dunklen Winkel und Ecken gehorcht, hatte den Garten vor Augen gehabt und das Feld dahinter. Natürlich hatte er auch an das Baumhaus gedacht.
    Seit jener Nacht fragte sich Leonard, ob tatsächlich alles ausgestanden war. Stürme, die in den Wolken schliefen, Gewitter, die nur darauf warteten, sich zu entladen, sobald man eingeschlafen war. Seine Eltern waren vor sieben Jahren innerhalb weniger Monate an Krebs gestorben. Viele hier erwischte der Krebs. Er nistete sich ein in Bauchspeicheldrüsen, Därme, Mägen und auch Gehirne. Der Krebs hatte Besitz genommen von der Stadt. Viele ahnten es, wissen aber wollte es keiner.
    Mit einem Blick auf die Zigarettenschachtel öffnete Leonard die Tür. Er zögerte kurz, dann verließ er das Zimmer und ging zur Treppe.
    Das Haus war klein, die Wände vor dreißig Jahren zum letzten Mal tapeziert. Von draußen konnte
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