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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
Autoren: Richard Lorenz
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gutes, warmes Gefühl, hier zu sein. Viel besser als im Bett zu liegen und an die Decke zu starren, zu warten, bis es Morgen wurde. Sie streifte Häuserecken und Straßenwinkel, suchte in erhellten Fenstern nach Gesichtern und Stimmen. Manchmal erschien ihr die Stadt wie tot, besonders dann, wenn sie sehr spät unterwegs war. In dieser Nacht war es schon nach ein Uhr morgens, und langsam wurde sie müde. Ihre Füße schmerzten seit dem Abend. Anders als sonst war sie von der Arbeit nicht direkt nach Hause gegangen, um dort eine Kleinigkeit vor dem winzigen Fernsehgerät zu essen, etwas Aufgewärmtes zu einem Film mit Jack Lemmon und Walter Matthau oder was sonst an Wiederholungen lief. Die Luft war an diesem Tag so gut gewesen, dass sie gleich losgegangen war, um keine Zeit zu verlieren. Schließlich hatte sie bereits am nächsten Morgen wieder Frühdienst, was bedeutete, dass sie sich um halb sechs auf den Weg zum Krankenhaus machen musste. An ihrem weißen Oberteil steckte ein Namensschild:
Magdalena Lehmbach, examinierte Krankenschwester
. Für Magdalena war es nach dem starken Unwetter und dem Verschwinden von Karla klar gewesen: Sie würde Krankenschwester werden. Ihre Mutter wollte, dass sie einen vernünftigen Beruf erlernen, oder einen Mann heiraten würde, der einen vernünftigen Beruf hatte. Ihr Vater, ein stämmiger kleiner Mann mit Halbglatze, hatte nur seinen Kopf geschüttelt und geschwiegen.
    Immer noch musste Magdalena an die Bilder aus jener Unwetternacht denken, als sie nach Karla gerufen hatten, die Blitze über der Stadt zuckend. Schreckliche Bilder in tiefroter Farbe, getaucht in frisches, noch nicht geronnenes Blut: Magdalena mit drei, vielleicht vier Jahren, in ihrem kleinen Bett mit der Schneewittchen-Bettwäsche. Die alte Standuhr im Wohnzimmer, die laut, sehr laut, tickte. Dann ihr Vater, der sich neben sie legte. Seine Haut nackt, weiß und feucht wie die eines toten Fisches. Und die Welt, die stumm wurde, von einer Sekunde auf die andere. Nur ein einziges Mal hatte sie diese Bilder gesehen, zwischen Auge und Seele. Aber das hatte genügt, um sie nie wieder vergessen zu können.
    Vater.
    In einem anderen Bild saß er in der Küche beim Essen. Fettiges Fleisch zwischen seinen dicken Fingern, Fettschlieren auf dem Bierglas. Seine Augen auf die mit einem Plastikschutz überzogene Tischdecke gerichtet, den ihren ausweichend.
    Magdalena hatte nie mit ihm darüber gesprochen. Auch dann nicht, als er vor zwei Jahren nach einem Schlaganfall im Bett lag und den Anschein machte, etwas sagen zu wollen. Vielleicht, und das dachte sie sich in letzter Zeit häufig, hatte er beichten wollen, die allerletzte Möglichkeit nutzen, um in den Himmel zu kommen. Aber sie war gegangen, bevor das passieren konnte, hinaus aus dem Zimmer, die Tür verschlossen. Ja, sie hatte gebetet, dass er sterben würde. Langsam und schmerzvoll. Und sie war erhört worden. Ihr Vater war langsam und schmerzvoll gestorben. Drei Monate lang war er zu Hause in seinem Bett gelegen, bis er es endlich hinter sich gebracht hatte. Sein Ende, ein neuer Anfang für Magdalena.
    Sechs Monate später, es war ein Sonntag mit zerrissenen Wolken am Himmel, kam Magdalena von ihrer Frühschicht nach Hause, zog sich rasch um und ging zu ihrem Elternhaus. Seit ihrer Ausbildung wohnte sie nicht mehr dort, sondern in einer winzigen Wohnung über dem Gemischtwarengeschäft mit Blick auf den Dorfplatz. Ein-, zweimal in der Woche besuchte sie ihre Mutter. An diesem Tag hatte Magdalena sich vorgenommen, dass es das letzte Mal sein sollte. Ihre Mutter, die als Jugendliche Nachtclubsängerin werden wollte, war zu einer Fremden geworden, zu einer alten Frau mit trüben Augen, ein Körper ohne Seele, ohne Herz. Die Tür stand offen, und das Radio plärrte Schlagermusik, Musik, die Magdalena immer schon gehasst hatte. Sie blickte zum Himmel, zu diesem wunderschönen Sommerhimmel mit den Kondensstreifen der Flugzeuge. Als sie das Haus betrat, ahnte sie, dass die Zeit für Besuche endgültig vorüber war.
    Ihre Mutter hatte sich mit einem Bademantelgürtel (Magdalena würde die Farbe nie vergessen: Meeresblau) am Fenstergriff des Badezimmerfensters erhängt. Sie hatte sich fallen lassen, so dass der Fensterrahmen an den oberen Kanten eingesprungen, aber nicht zersplittert war. Der Wasserhahn der Badewanne tropfte. Auf dem Küchentisch lag ein Brief, der lose in einem gebrauchten Kuvert steckte. Wenige Worte standen darin, eilig hingekritzelt, als hätte ihre
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