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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
Autoren: Richard Lorenz
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Bücherei. Stephan war zehn Jahre alt und irgendwie anders. Vermutlich war das der Grund, weshalb er hierher kam. Jeden Mittwoch Nachmittag stand er vor Tom und zeigte mit ernsthafter Mine seinen Ausweis vor. Tom prüfte ihn jedes Mal genau. Er wusste, wie wichtig das für Stephan war. Hier wurde er wahrgenommen, hier durfte er ohne Angst sein, was er war: ein Kind mit Träumen und Ängsten. Tom mochte den Jungen. Stephan sprach so gut wie kein Wort mit ihm, manchmal nickte er oder schüttelte den Kopf. Das war alles. Nachdem er seinen Ausweis vorgezeigt hatte, wartete er vor der Nussbaumtheke (auf der seit Anbeginn eine längst vergilbte Karte in einem schwarzen Rahmen stand mit der Aufschrift:
Lesen ist Urlaub für die Seele
), bis Tom ihn fragte: »Wie immer?«
    Der Junge in den viel zu großen Hosen nickte.
    »Ich hab es extra für dich herausgelegt. Lass dir Zeit.«
    Dann ging Stephan zur Kinderbuchabteilung. Dort gab es nur zwei Regale, einen kleinen roten Stuhl und einen kleinen roten Tisch. Auf dem lag jeden Mittwoch Stephans Lieblingsbuch »Wo die wilden Kerle wohnen«. Die Ecken abgestoßen, die einzelnen Seiten zerknittert und eingerissen. Es war schön, dem Jungen beim Lesen zuzusehen. Die Augen heller als sonst, der Mund stumme Wörter formend, von Sehnsucht und Traumwahrhaftigkeit. Siebenunddreißig Bücher hatte Tom inzwischen verbraucht, und es war nicht mehr so einfach, alte Ausgaben zu finden. Jeden Samstag durchsuchte er einige Internet-Plattformen und wurde meistens auf Ebay fündig. Natürlich durfte es nur »Wo die wilden Kerle wohnen« sein. Einmal hatte es Tom mit einer sehr schönen (und sehr teuren) Ausgabe von »Peter Pan« versucht, aber die hatte Stephan nicht einmal angefasst. Warum der Junge es tat, konnte er sich nicht erklären. Manchmal lag Tom wach, starrte an die Zimmerdecke, hörte die Nordwinde und hatte das Gefühl, es zu ahnen. Aber dann war dieses Gefühl wieder verschwunden, und die Nordwinde wurden zu Stürmen in seinem Kopf, die nur er hören konnte.
    Der Junge blätterte Seite für Seite um, langsam, bedächtig. Er lächelte dabei, vorsichtig, als wolle er seine Freude verstecken. Stephan hatte immer einen Stift in der Hosentasche, meistens einen Holzstift, manchmal einen Kugelschreiber. Er griff danach, und alles begann von vorn.
    Es war an einem heißen Sommertag gewesen, daran erinnerte sich Tom genau, als er zum ersten Mal das Buch aufgeräumt und es zuvor noch einmal durchgeblättert hatte. Ihren Namen darin zu lesen war ein Schock gewesen. Beinahe war ihm das Buch aus den Händen gefallen. Unheimlich war es, bis heute. Aber den Schrecken hatte Tom verdaut. Zumindest glaubte er das. Zweimal hatte Stephan sogar die Bilder verändert, aus dem Jungen ein Mädchen gezeichnet.
Karla
. Ihr Name in wackeligen Großbuchstaben geschrieben, die Tinte verwischt von zarten Fingern, von ungetrösteten Tränen. Der Junge konnte nicht wissen, wer Karla war. Ihre Königin, ihre Heldin der Nacht. Das wussten nur die Kinder, die damals in der Fabrik auf Rettung warteten. Doch die war nie gekommen. Vor allem nicht für Karla selbst. Vermutlich fühlte es sich für Stephan einfach richtig an, dem Klang ihres Namens eine Gestalt zu geben. Natürlich hätte Tom das Buch einfach wieder zurücklegen können, mit ausgestrichenen Namen – einmal hatte er genau das versucht, aber das war gründlich schiefgegangen. Stephan hatte zu Weinen begonnen, dann hatte er geschrien und das Buch von sich geworfen, ganz so, als hätte es ihn verbrannt. Die Veränderung, und darüber dachte Tom immer wieder nach, musste sichtbar werden, war unumgänglich geworden wie das Anzünden einer Kerze in der Nacht.
    Hinter der Kaffeeküche, die in Wirklichkeit kaum größer als eine Besenkammer war und nur Platz für einen Bistrotisch und einen Klappstuhl bot, gab es noch einen weiteren Raum. Tom hatte bereits über ein Jahr in der Bücherei gearbeitet, als er das Zimmer entdeckt hatte. Zwei große Holzbretter lehnten gegen die Tür, verbargen sie geschickt. Der Raum dahinter war selbst für ein Archiv beachtlich groß. Der Fußboden altes Kirschholz, die Wände unverputzte Ziegelsteine, rot, wie die des Hauses beim Löwenzahnfeld. Das war in der Tat Toms erster Gedanke, als er durch die schmale Öffnung der Tür schlüpfte. Wenn er mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, sah er das rote Haus im Augenwinkel vorbeihuschen. Es hieß, der Knochenmann wohne immer noch dort. 1973 sei er als Einziger zurückgekommen vom Haus des
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