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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
Autoren: Richard Lorenz
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wollte, seien schon immer schlecht gewesen. Die Zahnärzte bohrten und zogen, aber schon eine Woche später schmerzte ein anderer Zahn. Schwester Anna wurde schon völlig verrückt, wenn man nur von Zähnen sprach. Also wünschte sie sich an jenem Sommertag 1991 neue Zähne von Karla. Obwohl Schwester Anna seit einigen Jahren in Pension war, erzählte man sich die Geschichte heute noch: Sie sei in der Nacht aufgewacht mit einem merkwürdigen Gefühl im Mund. Einen kaputten Zahn nach dem anderen ausgespuckt, saß sie zahnlos im Bett und zitterte vor Aufregung. Dann kamen die Schmerzen. Schneeweiße Zähne sprossen aus ihrem Zahnfleisch wie frische Bäume aus regensatter Walderde. Ihr Mund klappte auf und zu, und wäre sie nicht ohnmächtig geworden (die Schmerzen waren unerträglich, rollende Glasscherben in ihrem Mund), hätte sie mit ihren Schreien die Stadt aufgeschreckt. Am nächsten Morgen begrüßte sie alle mit dem strahlendsten Lächeln.
    Daraufhin hatte sich einer der Ärzte Geld gewünscht. So viel Geld wie er im Leben nicht ausgeben konnte. Als er vier Tage später zur Arbeit kam, sah er entsetzlich müde aus. Seine Augenringe hatten mittlerweile die Farbe von Gewitterwolken angenommen. Es gab viele verschiedene Geschichten darüber, was passiert war. Die Schwestern hatten gehört, das Geld würde in seinen Hosentaschen wachsen. Im ganzen Krankenhaus lagen schimmernde Münzen auf dem Fußboden, in der Luft wirbelnde Geldscheine wurden von der Klimaanlage wie Papierflugzeuge davongetragen. Der Arzt kaufte sich neue Hosen, aber kaum hatte er sie angezogen, füllten sich die Taschen erneut. Karla war zu dem Zeitpunkt längst schon wieder entlassen worden, aber vermutlich hätte es keinen Unterschied gemacht. War ein Wunsch einmal ausgesprochen, blieb er. Eines Abends, erzählten sich die Krankenschwestern, sei der Arzt an den Kühlschrank gegangen und habe drei Ampullen Alt-Insulin herausgenommen. Die Stationsschwester fand einen Fünfzig-Mark-Schein zwischen den abgestandenen Urinproben. Den Arzt selbst fand man zwei Tage später tot in seiner Wohnung, mit heruntergelassener Hose und unzähligen Einstichen im Oberschenkel.
    Vielleicht war das auch der Grund, weshalb keine der Krankenschwestern Karla Gerber gerne anfasste, aus Angst, sie könnte Gedanken lesen und ein versteckter Wunsch könnte sich selbständig machen. Karin Schuster zum Beispiel, die noch nicht lange hier arbeitete, wünschte sich nichts sehnlicher als größere Brüste. Sobald Karla wieder einmal ihre Suite bezogen hatte, meldete sich Karin für die nächsten Tage krank. »Brüste können platzen, ob ihr es glaubt oder nicht. Hab davon gelesen, bei diesen künstlichen Dingern. Ohne mich«, sagte Karin. Sie nahm so viel Urlaubstage wie möglich und kehrte erst zurück, als Karla wieder zu Hause lag. Jeder verstand das.
    Magdalena hingegen berührte Karla gerne, sehr gerne sogar. Denn ihre Wünsche waren im gleichen Sturm gefangen wie die Wünsche jener dünnen Frau im kalkweißen Krankenhausbett. Namen, nichts als Namen. Nicht mehr und nicht weniger. »Auld lang syne« summend, nahe bei ihr. Die surrende Ernährungspumpe, über den Gängen das gleichmäßige Piepen eines Monitors. Das leise Atmen der anderen Patienten, verstreut in viel zu großen Betten. In der Luft, allgegenwärtig, der Tod. Karlas Augen halb geöffnet, Salbenreste in den Augenwinkeln und auf den Lippen.
    So kamen die Namen. Wie Gebete kamen sie.

Leonard
     
    Leonard fragte sich, ob es im Garten des Hauses auch einen Baum gab. Nicht vom Murr-Haus träumte er, dessen Garten und Bäume kannte er, denn man konnte sie von hier aus sehen. Unendlich weites Geäst, das bei tief hängenden Wolken den Himmel berührte. Wenngleich er auch niemals in Roberts Elternhaus gewesen war, träumte Leonard davon. Es lag in jener Straße, aus der – das behaupteten alle – nur schlechte und dumme Menschen kamen. Menschen, die eines Tages stehlen und lügen würden. Die die Tollwut im Blut hätten. Leonard fragte sich, ob es dort einen Baum gab, bei dem es funktionieren könnte. Tatsächlich funktionieren, nicht so wie bei dem Baum in seinem Garten, dem Löwenzahnbaum, so gelb wie die Sonne im August. Einen Herbst lang hatte es Leonard mit Löwenzahnblättern versucht. Keine gute Idee, wie er am nächsten Morgen feststellen musste. Das folgende Jahr hatte er es mit Ahornblättern probiert, aber auch das war schief gegangen. Zwei Spindeln Drachenschnur waren verbraucht, seine Hände
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