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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
Autoren: Richard Lorenz
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legen würde wie bei einem toten Tier und es ebenso mit der Frau im Bett machen würde, das Laken übers Gesicht gezogen, was würde passieren?
    Arik war gern bei Karla. Meistens konnte er es nicht erwarten, bis er endlich wieder zu ihr gehen konnte. Bis er wieder eine ihrer Schallplatten auf den billigen Grundig-Plattenspieler legen konnte. Joan Baez und Bob Dylan, Fleetwood Mac und Supertramp. So leise eingestellt, dass ihre Mutter nichts davon mitbekam. Sie glaubte nämlich, laute Musik würde Karla stören bei ihrem Jahrhundertschlaf. Wenn es nach Arik gegangen wäre, hätte er den Regler bis zum Anschlag aufgedreht, bis sich jeder Ton hundertmal überschlagen hätte – und mit jedem Ton das Leben. An manchen Tagen, wenn die Wolken am Himmel sich verschlossen, legte er sich zu ihr ins Bett, vorsichtig, so als wolle er sie nicht aufwecken. Er roch die Vermengung von Arzneimitteln, künstlicher Ernährungsmilch und dem Urin in dem Beutel am Fußende. Das alles war aber nicht wichtig, denn er roch auch ihre Sommertage und den Regen, durch den sie damals gelaufen war.
    Seine Eltern sprachen nie über die Allerheiligennacht vor dreizehn Jahren. Arik hatte nie erfahren, warum seine Schwester für immer im Bett liegen musste, warum ihre Augen trübe und leer waren, an ihrer Stirn eine hell leuchtende Narbe, knapp über dem rechten Auge. Auf der Stirn seiner Mutter befand sich eine ähnliche Narbe, ein vererbtes Mal.
    Wenn die Zeit gut war und die Träume unruhig, berührte er genau diese Stelle und glaubte zu spüren, dass Karla seine Berührung brauchte, seine Nähe, seine Liebe. Und er glaubte zu spüren, dass er sie retten konnte. Er wusste nur noch nicht, wie.
     
    Nichts hatte sich über Nacht verändert. Keine Bilder, keine Gerüche, keine Geräusche. An jenen Tagen setzte sich Christoph nach dem Aufstehen vor das rote Haus und sah zu, wie der Tag kam und ging, wie die Dämmerung die Sonne verscheuchte, wie die Nacht den Himmel schwärzte. Er nutzte diese Tage, um in die Stadt zu gehen, um all das zu besorgen, was er zum Leben brauchte. Viele Leute hatten Angst vor ihm, das spürte er. Sie trauten ihm nicht über den Weg, ihre Blicke gesenkt, ihre Hände unruhig. Mittlerweile machte er sich darüber keine Gedanken mehr.
    Der Sturm von 1986 war längst vorübergezogen, der Himmel wieder klar. Es war genug Zeit verstrichen, um sämtliche Kisten und Schachteln, die er in dem roten Haus gefunden hatte, zu öffnen, um Dinge, die vergessen waren, auf den Boden zu streuen, sie zu befreien vom Staub der Erinnerung. Wie viele Kisten es waren, wusste Christoph nicht. Er hatte sie nie gezählt. Er wusste, es würde ihm den Verstand rauben, sein Herz brechen.
    So viele Kinder, so viele verlorene Träume
.
    Noch vor einigen Jahren war Christoph voller Zorn gewesen. Jeden Einzelnen hätte er am liebsten angeschrien, verprügelt, aus der Stadt getrieben.
    Verscharrte Kinder, die Stadt einem Friedhof gleich
.
    Heute aber wusste er, dass der Tod mächtiger war als seine Wut. Die Alten bekamen Krebs. Die Geschwüre waren mit den Gewittern gekommen, in jedem Blitzeinschlag und in jedem Regentropfen lagen Unheil und Verderben. Von einem Tag auf den anderen Schmerzen und der Geschmack des Sterbens im Mund. Gräber wurden geöffnet, da sich niemand mehr um alte Erinnerungen kümmern konnte, neue mussten begraben werden. Endlose Reihen von Namen, wie ein Einkaufszettel hastig geschrieben, in ewigen Stein gemeißelt und die Buchstaben in Gold gefasst.
    Auf seinen Wegen durch die Stadt sah Christoph die Namen aus Kreide an den Häuserwänden, selbst jene, die weggewischt worden waren. Sie waren überall, auf den Asphaltstreifen zwischen den Straßen, auf Telefonmasten gekritzelt. Er blieb stehen und berührte jeden einzelnen Buchstaben. Er kannte die Namen. Sie standen geschrieben auf den Kisten in seinem Haus, verborgen darin die verlorenen Schätze eines viel zu kurzen Lebens.
    Wir tun Dinge, weil wir etwas kommen sehen
.
    Erneut waren dreizehn Jahre verstrichen, und der Herbst würde die Menschen der Stadt abermals daran erinnern. Sollten alle die Zeichen nur für Kinderschmierereien halten! Christoph aber spürte, dass sich ein neuer Sturm anbahnte. Das Sommerlachen und die sternenklaren Nächte waren endgültig vorbei.
    Manchmal wachte Christoph auf, blickte auf den gemalten Sternenhimmel über dem Bett und wusste alles über den Namen aus seinem Traum. Dann war es Zeit, zehn, fünfzehn Seiten zu schreiben, noch bevor er sich den
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