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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
Autoren: Richard Lorenz
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ersten Kaffee aufbrühte und die Fenster öffnete, um die Morgenluft hereinzulassen. Eine Art Trance erfasste ihn in diesem Moment, sein Mund gefüllt mit einer fremden Zunge, seine Finger geführt von einer fremden Hand.
    Es war ein anderes Schreiben als damals bei seinem Roman »Schatten«, es war tiefer und wahrhaftiger. Er sah ihr Leben wie einen Film hinter seinen Augen abspielen, sah Fotografien und vernahm leises Flüstern, so leise wie Windseufzer, die den Herbst bringen. Vielleicht hatte er mit den Niederschriften über Sara, Robert und Alfons eine Tür aufgestoßen, vielleicht kamen die Geschichten aber auch aus den Kisten, von den geheimnisvollen Dingen darin.
    Christoph tippte auf der Schreibmaschine, bis der Schmerz in seinem Rücken unerträglich wurde. Vor Jahren hatte er Angst gehabt, die Worte in ihm würden verstummen, sobald seine Hände nicht mehr in Bewegung waren, aber sie ruhten sich nur aus. Sobald Christoph einen neuen Bogen Papier in die Schreibmaschine einspannte, lief der Motor wieder an und alles war gut. Gewöhnlich brauchte er für ein Leben drei Wochen, manchmal auch nur zwei – von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends. Dazwischen trank er reichlich Kaffee und aß ein wenig. Das Zimmer mit den Kinderlandbildern an der hinteren Wand, dem abgewetzten Sofa (Christoph hatte es von der Müllhalde geholt), dem Schreibtisch mit dem Stuhl und den Büchern füllte sich mit Papierstapeln; weißes, rotes und sonnengelbes Papier. An den Abenden saß er auf dem Sofa und las das Geschriebene. Der Typen-Anschlag schlecht, Wörter durchgestrichen, das Papier an den Ecken gerissen.
    Diese Stadt hätte eine gute Stadt werden können
.
    Ein Junge, sein Name war Josef Raimer, hätte später einmal Kinder gerettet, außerhalb der Stadt. Christoph wusste alles über ihn. Sein rechtes Ohr war taub, nachdem er mit sieben Jahren eine Schreckschusspistole abgefeuert hatte, und er träumte von den Engeln, die ihn wieder heilten in den Nächten. Mit vier Jahren war Josef ums Leben gekommen. In einer mondlosen Nacht hatte ihn sein Vater weggebracht, zu den Raben getragen. Blut tropfte aus seinem tauben Ohr, die Augen für immer geschlossen. Die Bilder vom Sterben der Kinder nahm Christoph nur verschwommen wahr. Heldengeschichten schrieb er auf gelbes Papier, das viel dünner war als jedes andere, so dass sich die Buchstaben vielmehr einstanzten als abdrückten. Und sobald er ihr Leben aufgeschrieben, die Kinder zurückgeholt hatte, gingen die Träume fort, auch das wusste Christoph. Verbleichender Kometenschweif. Dunkle Geschichten fanden ihren Platz auf rotem Papier, nur wenige waren dunkel genug. Zwei der Kinder hätten später einmal einen Mord begangen. Diese Geschichten waren wie aufgeritzte Leiber – blutig, verzerrt, ohne Hoffnung auf Rettung. Abseitige Mitternachtsgefühle, vermengt mit Grabesgesängen. Drei solcher Stapel zählte Christoph. Kein einziges Mal blätterte er darin. Am schmerzlichsten jedoch war es, die weißen Papierbögen zu füllen. Leben wie Blütenblätter, die in einem Sturm zum Himmel gerissen wurden. So viele Judenkinder, die im Kinderland begraben lagen. Ihre Atemzüge waren verwoben, ihre Herzschläge einsam. Knochen über Knochen. Name für Name. Leid für Leid. Mit jedem Wort ging auch ein Teil von Christoph fort. Vielleicht hätte er das Schreiben längst aufgegeben, hätte seinem Leben ein Ende gesetzt, wäre da nicht seine Schwester gewesen. Sophie, das Regenmädchen. Und natürlich Sara. Deren Worte über allem schwebten, was er tat.
Tapfer trage fort mein Herz
.
     
    Arik spürte, dass er dem Mann im roten Haus vertrauen konnte. Was auch immer die Leute über ihn dachten, was sie über ihn sprachen, murmelnd, mit Angst in der Stimme. Arik berührte seinen Lieblingsbaum, Harvey. Er dachte an Karla, die zu Hause in ihrem Bett lag und vom Himmel träumte, von den Sternen und vom Mond, das zumindest wünschte er ihr.
    Er nahm seine Hand von der rauen Baumrinde und hielt sie sich an die Brust, dort, wo sein Herz schlug, ängstlich und tapfer zugleich.
     
    Christoph sah ihn nicht nur, er spürte ihn, so wie er alle Menschen der Stadt spüren konnte, die Lebenden und die Toten. Er fühlte das Herz des Jungen, roch seine Furcht, vernahm seinen Mut.
    Sperlinge stoben empor. Zwei Hunde bellten.
     
    Je näher Arik dem Haus kam, desto sicherer fühlte er sich. Geborgen war wohl das richtige Wort dafür. Als würde er nach Hause kommen, an den richtigen Ort. Das Löwenzahnfeld war
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