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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
Autoren: Richard Lorenz
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Radiogerät mit Zimmerantenne. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr daran gedacht, wie sehr er es geliebt hatte. Wie sehr er sich gewünscht hatte, in München bei einem Radiosender zu arbeiten. Für ihn. Und für Balthasar. Er stand auf und schaltete das Telefunken-Radiogerät ein, der Schalter knackte. Ein leises statisches Rauschen, Millionen Lichtjahre entfernt. Ungeduldig wie ein kleiner Junge drehte er am Knopf. Ein Nachrichtensprecher mit schleppender Stimme war zu hören.
    »Swing für Swing-Beine, du Affe!«, sagte Frank und prustete los. »Swing-Swing-Heil! Na, komm schon!«
    Knacken und Rauschen, Knistern und Brummen. Dann Glenn Miller. Oh mein Gott, dachte Frank und lachte. Der gute alte Glenn Miller! »Pennsylvania 6-5000« im letzten Drittel. Der Takt, eine Pause, dann alle zusammen. Als Junge hatte er schon Miller gehört, wenngleich er auch nicht gewusst hatte, was genau er da hörte.
    Das Zirpen der Grillen wurde lauter.
    Die Stimme in Franks Kopf flüsterte:
Wir sind alle Wunderkinder. Allesamt sind wir Wunderkinder, in dem Moment, in dem wir auf die Welt kommen. Gottverfluchte-Scheiß-Wunderkinder. Nur ein kurzer Moment, gerade lange genug, um zu ahnen, was das Leben bedeuten konnte, wenn man es auf den Mund küsst
.
    Die Glühbirne flackerte wild.
    Leichtfüßig tanzte Frank zum Tisch, drehte den Stuhl, nahm eine Zigarette, warf sie in die Luft und fing sie mit dem Mund auf. Rieb ein Zündholz an der Tischkante und paffte herben Rauch durch die unsichtbaren Wolken des Zimmers.
    Die Stimme wurde lauter:
Jedes Kind, ob dumm oder gescheit, kommt auf die Welt, um sie zu verändern. Und die Wunderkinder schlafen in Särgen mit tonnenschweren Deckeln, weil die Menschen keine Wunder wollen
.
    »Ruhe! Aber sofort!«, schrie Frank.
    Die Stimme schwieg.
    Der Radiosprecher sagte etwas über das Wetter, aber Frank hörte nicht zu. Er wusste, dass ihn Glenn nicht im Stich lassen würde, nicht in dieser Nacht. Und so war es. »Nach Pennsylvania 6-5000« folgte »In the Mood«.
    Menschen beeinflussen andere Menschen, das ist das wahre Wunder. Im Leben und im Tod. Wäre Balthasar nicht gestorben, würde Frank nicht hier sein. Vielleicht würde er gerade mit einer schönen Frau über den Nachthimmel philosophieren. Irgendwo in Schwabing, in einem kleinen Straßencafé, die Tische schief und die Herzen aufgeregt. Nur einen Atemhauch war er davon entfernt gewesen. Doch Balthasar hatte aufgehört zu atmen, und das hatte aus einem Jungen mit Hoffnung einen Leichenwäscher gemacht.
    Frank tanzte durchs Zimmer, vom Sofa zum Tisch und wieder zurück. »Hilf mir, Gott«, flüsterte er und schloss die Augen.
    Und Gott tat ihm den Gefallen. Denn er mochte Frank. Und Glenn Miller.
     
    Wann genau Frank die Sperrmüllberge durchsucht hatte, wusste er nicht mehr. 1973, nach dem schrecklichen Herbst, die Tage verzerrt und unwirklich. Nachdem er den toten Murr im Kinderland gefunden hatte, hatten sich die Lichter in den Fenstern verändert. Frank war sicher, damals hätte alles anders werden können. Das Blechbüchsentelefon hatte im Herbstlicht matt geschimmert, und das hatte Frank gefallen. Die lange Schnur dazwischen schmutzig nass. Kindersachen, die auf den schmalen Gehsteigen darauf warteten, abgeholt und vergessen zu werden. Keine Invasion der Marsmenschen, keine Seuche. Die Welt der Kinder, die immer noch lebten, war kleiner und unscheinbarer geworden. Heute waren jene Kinder von damals die schlimmsten Erwachsenen. Als hätte der Tod von Sara, Robert und Alfons ihr Herz entzwei gerissen, als wären sie der Liebe entwachsen und zu Wintermenschen geworden.
    Unter der Leichenhalle gab es einen Keller. Früher hatte man dort die Leichen aufgebahrt, bei denen man sich nicht ganz sicher war. Wiedergänger, Untote. Gestalten, die um Mitternacht wieder aufstehen, den Bauch gebläht, die Haut aufgerissen. Auf einer schweren Eichenholzpritsche festgenagelt mit langen Zimmermannsnägeln. Ein Mühlstein, den zwei starke Männer tragen mussten, in ihren Schoß gelegt. Eine Zeit lang, das hatte Frank in langen Winternächten von den Ältesten gehört, hatte man vorsichtshalber jeden Toten in den Keller gebracht. Vor allem die Kinder, die plötzlich leblos im Bett gelegen waren. Denen der Teufel seine Hand auf die Stirn gelegt hatte, um sie schlafend zu machen. Nur schlafend, damit sie auferstehen konnten, um das Vieh zu töten, um die Häuser niederzubrennen, um die Kehlen der Väter und Mütter durchzubeißen. In der Zeit um 1900
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