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Rita und die Zaertlichkeit der Planierraupe

Rita und die Zaertlichkeit der Planierraupe

Titel: Rita und die Zaertlichkeit der Planierraupe
Autoren: Jockel Tschiersch
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    E s war der pure Kitsch wie auf den analogen Postkarten oder im neuen Hochglanz-Internet-Auftritt der Gemeinde Ratzisried im westlichen A llgäu: Die Mittagssonne ließ den Hochgrat-Gipfel vor dem unverschämt saumäßig blauen Himmel glühen, an dem sich schon ein paar verfrühte Kumuluswolken aufgeplustert hatten. Davor lagen die sanften Moränenhügel, der kleine Elenschwander See ruhte eingebettet in grüne saftige W iesen, auf denen mutmaßlich glückliche A llgäuer Braunvieh-Kühe standen und stoisch mit ihren Glocken herumbimmelten, passgenau zur V oralpenidylle, in der wochenweise einfallende Kurgäste aus Norddeutschland mittlerweile horrende Nächtigungspreise abdrückten.
    Ewald Fricker hatte keinen Blick für die Kulisse, er war hier aufgewachsen und schrieb sowieso keine Postkarten. Er stand in seinem Zimmer und zog sich seine blaue Montierkombi an. Das Zimmer war klein und spärlich eingerichtet: ein altes Holzbett mit weißer Bettwäsche, ein kleiner T isch und ein einfacher Schrank aus Kiefernholz, wie Städter ihn sich gern mal in ihre Neubauwohnungen stellten. Ewald hatte den Schrank aber nicht vom A ntiquitätenhändler gekauft, sondern von seinem Großvater geerbt, als der gestorben war, kurz nach Ewalds zehntem Geburtstag. Fünf blaue Overalls hingen in dem Schrank, die alle schon recht ausgewaschen waren und völlig identisch zu sein schienen. Daneben baumelte auf einem Holzbügel Ewalds Sonntagsanzug, der im selben Blau gehalten war wie die Montieranzüge.
    Über dem Bett glotzte ein röhrender Hirsch in Öl aus einem Holzrahmen, sonst gab es keine Bilder an den weißen W änden, die längst einen neuen A nstrich nötig gehabt hätten. A uch Bücher hätte man vergeblich gesucht. Einzig über dem T isch, neben dem Fenster, war mit Reißzwecken ein vergilbtes Schwarzweißfoto angeheftet. Es zeigte Ewald Fricker als jungen Kerl auf einer gelben Planierraupe. Durch das kleine Fenster konnte man, wenn man sich bückte, am oberen Rand einen schmalen Streifen der A llgäuer Berge sehen, denn das alte Bauernhaus lag in einem T al, in das die Sonne auch im Sommer nur stundenweise hineinschien.
    Ewald zog den Reißverschluss der blauen Kombi nach oben, als seine Mutter hereinkam, wie immer ohne anzuklopfen. Ewalds Mutter war klein und von einem schwer schätzbaren A lter, ihr gebückter Gang ließ sie manchmal gar wie eine Greisin aussehen. Sie hatte ihr Kopftuch um die strähnigen Haare gebunden und trug die alte Kittelschürze, mit der sie sowohl in der Küche als auch im Stall herumwerkelte. Zum Glück besaß sie zwei dieser Schürzen, die beide in grünlich blauen T önen gehalten waren. Ewald sah, dass die Mutter heute am Sonntag wenigstens die Gummistiefel, die sie im Stall trug, gegen die alten Filzpantoffeln eingetauscht hatte.
    Misstrauisch beäugte sie Ewald.
    »Warum ziehst du Seckel nicht den Sonntagsanzug an?«
    Ewald zuckte mit den Schultern.
    »Der ist doch bloß für was Besond’res!«
    »Den hast du noch kein einzig’s Mal angehabt! Der hat ein unverschämt’s Geld ’kostet!«
    »Ja mei, es war halt nie was Besond’res.«
    Ewalds Mutter dachte gar nicht daran, auf diese A rgumentation einzugehen. Überhaupt war sie schwer zu bremsen, wenn sie einmal mit ihrer Litanei des Schimpfens angefangen hatte.
    Aber so war sie halt, es hätte Ewald eher gewundert, wenn die Mutter gar nichts gesagt hätte, was manchmal sogar noch schlimmer sein konnte als das verbale Dauernörgelfeuer. Sie riss Ewalds Geldbeutel auf, der auf dem T isch lag.
    »Da hast wieder einen Fuch’ziger drin, Sakrament nochmal! Da kriegst dann wieder bloß die Hälfte z’ruck, die bescheißen dich doch, wo’s geht!«
    Mit dem Geld war’s sowieso ein rechtes Geschiss. Die Mutter regte sich immer auf, dass Ewald große Scheine dabeihatte, wo er doch mit dem Geld nicht umgehen konnte.
    »Aber wenn wir mein’ ganzen Lohn auf dem Konto droben lassen, dann platzt’s vielleicht irgendwann, das Konto …«
    »Du bist doch ein Depp!«
    Die Mutter ließ ihm einen Zehner im Geldbeutel, aber der war auch rot. Ewald wusste, dass die Zehner etwas kleiner waren als die Fünfziger und das Rot ein bissle anders war, aber er fand es schon blöd, dass der Staat ein Geld druckte, das man kaum voneinander wegkannte, wenn man die Zahlen nicht lesen konnte.
    Er überhörte, dass er nichts saufen und nicht mitten in der Nacht nach Hause kommen sollte, schließlich stand er jeden Morgen um halb fünf Uhr auf und molk die Kühe, bevor
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