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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns
Autoren: David Jimenez
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Rikscha in den Bordellen von Svay Pak verjubelt hast? Und hör auf, mich anzulügen, du weißt, was der Arzt gesagt hat, dass man sich |20| mit AIDS nicht beim Essen oder mit dem Wasser ansteckt, sondern durch die Schwachheit, von der du immer zu viel hattest.«
    Mit der Rikscha fuhr Kong Thai die 15 Kilometer von der Behausung der Familie – ein Fenster, ein Lager, ein Ventilator, ein weiteres Fenster und viele Ratten, alles für einen Dollar –, zum Krankenhaus, hinten schluchzend seine Tochter und seine Frau, den Koffer umklammert. Am Eingang des Hospitals lagerten die Kranken, ohne Kraft, sich auf den Beinen zu halten, und warteten darauf, dass die Toten von heute einen Platz für die Toten von morgen freigaben. Es vergingen mehrere Stunden und war schon fast Nacht, als eine Schwester die letzten beiden Patienten aufrief und die Aufnahmeformalitäten erledigte. Oben auf der Karteikarte notierte sie das Datum: 22. August 2000.
    Name: Touh Sokgan. Alter: 27 Jahre. Symptome: Hautflecken, Übelkeit, Erbrechen, Gewichtsverlust, Husten, Geschwüre. Gewicht: 28 Kilogramm. Zustand: terminale HIV-Infektion.

    Name: Kong Vothy. Alter: 5 Jahre. Symptome: Hautflecken, Übelkeit, Haarausfall. Gewicht: 14 Kilogramm. Zustand: (vermutlich) AIDS.
    Gekränkt, dass man sie für eine Prostituierte hielt, wich Sokgan den Fragen über ihr Sexualleben aus. Sie sagte, sie habe nur mit einem Rikschafahrer Geschlechtsverkehr gehabt. Obwohl damals auch viele Hausfrauen von ihren Ehemännern mit AIDS angesteckt wurden, schrieben die Ärzte die Bezeichnung »Prostituierte« in ihre Berichte, wann immer sie bei einer Frau eine HIV-Infektion feststellten. AIDS war die Krankheit der Huren, nicht die ihrer Freier.
    Zum Schluss fragte die Krankenschwester ihre beiden neuen Patienten, ob sie irgendwo Verwandte hätten. Dies sei sehr wichtig, erklärte sie, da sich das Krankenhaus in diesem Fall, und nur in diesem Fall, verpflichte, die Waise zum Dorf der Großeltern, Onkel, Tanten und Neffen zu bringen, sollten die Eltern vor der Tochter sterben und diese allein zurücklassen – und darauf wies |21| alles hin –, hatte doch die Erfahrung gezeigt, dass sich unter den Verwandten immer ein guter Menschen fand, der sich ihrer annahm.
    Familie: keine
    Die Kambodschaner nennen das Preah-Sihanuk-Krankenhaus das Russenhospital, weil es in der Zeit des Kommunismus mit russischem Geld errichtet wurde. Der Trakt für die AIDS-Kranken ist von den anderen getrennt und der einzige, der über ein Budget zur Verpflegung der Patienten verfügt. In den übrigen Stationen hängt es von den Familienangehörigen ab, was die Kranken zu essen bekommen, doch hier haben die meisten niemanden, daher müssen sie verpflegt werden. Nachdem er einen Obolus für die Beschwernisse abgezogen hat, die ihm seine Arbeit auferlegt, verteilt der Buchhalter in seinem winzigen Büro im ersten Stock die Budgetposten mit skrupulöser Unparteilichkeit. Diesen Monat: 12 Cent eines Dollar pro Patient und Tag. Der Buchhalter findet, dies sei mehr als genug. Die AIDS-Kranken hätten keinen Appetit, somit gebe es keinen Grund, sie zum Essen zu drängen und das ganze Geld für ihre Verpflegung auszugeben. Genauso wenig ist es erforderlich, die Patienten zu behandeln, dafür ist nun wirklich kein Geld da, und Medikamente hat sowieso niemand. Sogar die Ärzte haben Angst, sich anzustecken, und kommen fast nie. Die Krankenschwestern bekommen einen Hungerlohn, noch weniger als der Buchhalter und die Ärzte, und halten nur Wache, wenn sie an dem Tag gerade nichts Besseres zu tun haben. Dieser Ort ist nichts anderes als das Vorzimmer zum Friedhof, niemand seiner armen Insassen darf hoffen, noch irgendwo anders hinzukommen, also welchen Sinn hätte es da, noch Mühen auf sie zu verschwenden?
    Ich warte, bis Sokgan mir mit einer Regung bestätigt, dass sie noch lebt, bevor ich ins Zimmer trete, und stelle ihr die dumme Frage, wie es ihr geht. Sie antwortet mit einem schrillen Klagelaut, der fast wie ein Schrei klingt. Tränen bedeuten in Kambodscha |22| mehr. Die kambodschanischen Kinder lernen schon als Säuglinge, dass weinen nichts hilft; die Alten haben all ihre Tränen in den Jahren des Völkermords vergossen, der dieser Wiegenlektion Nachdruck verlieh, und wurden trotzdem auf Pol Pots Killing Fields abgeschlachtet. Tränen nützten ihnen überhaupt nichts.
    Sokgan winkt mich zu sich heran.
    »Die Kleine«, flüstert sie und klammert sich an meinen Hals. »Sie hat nichts. Sie wird allein
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