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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns
Autoren: David Jimenez
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wollten das Leben des Monsuns hinter sich lassen, sie waren es müde, in den Jahren, in denen er sich verspätete, auf seinen Regen zu warten, und sich zu wünschen, er wäre nie gekommen, wenn er sich mit aller Macht über dem Dorf entlud. Sie taten sich gegen alles und jeden zusammen, gaben sich in seinem kleinen Dorf in der Provinz Svay Rieng an der Grenze zu Vietnam |18| das Jawort und machten sich auf, um ihr unwahrscheinliches Glück in der Hauptstadt zu suchen.
    Sie fanden das Heim der Frischangekommenen in Phnom Penh: eine kleine Behausung, ein elendes Lager, ein Ventilator und viele Ratten für einen Dollar am Tag. Sokgan blieb zu Hause, um sich um das Heim zu kümmern, Thai nahm eine Arbeit als Rikschafahrer an. Die Zahl der Rikschas war damals ein guter Gradmesser der Lage im Land: Je mehr Rikschas, desto größer die Zahl der Verzweifelten. Als Kong Thai Anfang der neunziger Jahre mit seiner neuen Arbeit begann, gab es über 10 000 Rikschas in der Stadt, die von zugewanderten Landarbeitern, Kriegsveteranen, die noch beide Beine hatten, Schwachsinnigen, Arbeitslosen und Verzweifelten aller Art gefahren wurden. Kambodscha war ein durch Jahrzehnte der Invasionen, Bombardierungen, durch Bürgerkrieg und den Genozid Pol Pots zerstörtes Land. Seine Bewohner wussten es noch nicht, doch als sie sich noch von keiner dieser Hinterlassenschaften wieder erholt hatten, machte sich im Herzen der Gesellschaft ein neues Unheil breit. In das Leben jener, denen die Bürde zugefallen war, das Land wieder aus seinem tiefen Elend zu ziehen, hatte sich die Krankheit AIDS geschlichen. Auch dieses Mal nicht du, Kambodscha.
    Sokgan hat nie verstanden, woher dieser kümmerliche, schwächliche Mann, der ihr ein neues Leben in der Stadt versprochen hatte, nach seinem harten Tagewerk noch die Kraft nahm, um weitere elf Kilometer bis zu den Bordellen von Svay Pak am Rand der Stadt zu fahren und dort die Einnahmen des Tages zu verprassen. Doch nun ist es zu spät, sich zu beklagen. Sokgan liegt entblößt auf ihrem Bett in einem Zimmer im zweiten Stock des »Russenhospitals« von Phnom Penh; ihr fehlt selbst die Kraft, den Körper, den sie nicht mehr als den ihren erkennt, schamhaft zu verbergen.
    Nach und nach musste die junge Frau mit ansehen, wie ihre Schönheit verfiel, fortgeschwemmt wie ein Ölfleck im Regen. Ihre Brüste sind bis zum Verschwinden geschrumpft, ihr Gesicht ist abgeflacht, ihre Muskeln haben sich zusammengezogen, ihre |19| Stimme ist erloschen. Sie verbringt die Tage weinend, in den Nächten schreit sie vor Wut. Sie erinnert sich nicht, wann sie das letzte Mal in den Spiegel geschaut hat. Als ich sie regungslos auf ihrem Lager kauern sehe, zweifle ich einige Augenblicke: Lebt sie? Ist sie tot? Sie besteht nur noch aus Knochen und Häufchen übrig gebliebener Haut, die in Falten auf ihr liegt und nirgends zu haften scheint, sodass man meint, sie könnte sich jeden Augenblick vom Körper lösen und das Knochengerüst entblößen.
    Thai muss schon sehr früh die Krankheit ins Haus geschleppt haben, denn Vothy, seine Tochter, kam ebenfalls mit dem HI-Virus zur Welt. Unter dem Bett, das sich Mutter und Tochter im Russenhospital teilen, liegt ein alter, quadratischer, wichtig aussehender Koffer aus braunem Kunstleder, wie sie früher Parfümvertreter mit sich führten. Er hat Metallkappen an den Ecken und ist mit Flicken übersät. Ihre gesamte Habe befindet sich in diesem Koffer: Vothys rosafarbenes Kleid, das blaue ihrer Mutter; ein paar Lackschuhe von Vothy, die Schlappen ihrer Mutter; die Ohrringe Vothys und die ihrer Mutter; eine kleine Bürste für Vothy, die größere ihrer Mutter. Eine Garnitur von fast allem und fast nichts für jede von beiden.
    Sokgan hatte sich immer wieder geweigert, ins Krankenhaus zu gehen, für sie war ein Ort zum Sterben so gut wie der andere. In jedem Fall schwanden ihr tagtäglich die Kräfte, um die Fahrt zum Krankenhaus noch zu schaffen, und so wurde sie immerzu verschoben, auf morgen, morgen, morgen… Erst, als sie bei ihrer Tochter die ersten Hautflecken entdeckte, die gleichen, die auch ihr selbst den Anfang vom Ende angekündigt hatten, rappelte sie sich mit letzter Kraft auf, starrte ihren Ehemann mit der geballten Wut an, die sich seit damals in ihr aufgestaut hatte, und verlangte von ihm, sie so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu bringen. Sie beide konnten morgen sterben. »Besser, es wäre gestern gewesen. Aber was kann die Kleine dafür, dass du das Geld von der
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