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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns
Autoren: David Jimenez
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Kambodscha ist eines der Länder, dem die Verfügungsgewalt über sein Schicksal in dieser Weise geraubt wurde.
    Die Zukunft der Kambodschaner fing an, sich außerhalb ihrer Landesgrenzen zu entscheiden, als die USA während des Vietnamkriegs einen Staatsstreich gegen Prinz Norodom Sihanuk unterstützten und das Land bombardierten, um angebliche Guerillalager zu vernichten. Die amerikanischen Angriffe trieben den kommunistischen Untergrundkämpfern des damals unbekannten Soloth Sar, der später unter dem Namen Pol Pot als einer der großen Völkermörder des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen sollte, Tausende neuer Rekruten in die Arme. 1975 zog der »Bruder Nr. 1« unter dem Jubel einer kriegsüberdrüssigen Bevölkerung |27| siegreich in Phnom Penh ein, rief das Jahr null aus und machte sich daran, das Land in ein proletarisches Paradies zu verwandeln. Die Stadtbevölkerung wurde aufs Land geschickt, die Wirtschaft Kambodschas nach dem Vorbild Mao Zedongs ruiniert und die neue Volksrepublik »Kampuchea« einer ideologischen Säuberung unterzogen. Geld, Post und Zeitungen wurden abgeschafft. Ein Universitätsstudium, Fremdsprachenkenntnisse, eine Brille, mangelnde Bescheidenheit bei der Garderobe, all dies genügte schon, um zur Zwangsarbeit aufs Land geschickt zu werden. Nach der Vorstellung Pol Pots konnten nur reine Bauern den revolutionären Traum voranbringen. Die zur Beherrschung des Landes geschaffene revolutionäre Organisation Angka richtete Volksfeinde gern mit einem einfachen Spruch Pol Pots hin: »Behalten wir dich: kein Gewinn; merzen wir dich aus: kein Verlust.«
    Tausende von Kindern wurden in Ausbildungslager gesteckt, zum Hass erzogen und zum Dienst für ein kommunistisches Regime abgerichtet, das ihre Loyalität auf die Probe stellte, indem es sie zwang, ihre eigenen Angehörigen zu erschlagen. Im gesamten Land starben etwa 1,7 Millionen Menschen, ein Rekord, was die Schnelligkeit und Wirksamkeit des Genozids anbelangt, stellt man in Rechnung, dass Kambodscha nur sieben Millionen Einwohner hatte und die Roten Khmer nur drei Jahre, acht Monate und 20 Tage an der Macht waren.
    Noch heute mache ich, wenn ich Kambodscha besuche, einen unfehlbaren Test, der mich immer wieder überrascht. Ich suche mir aufs Geratewohl eine Person aus – den Hotelpagen, den Kellner im Restaurant, die Verkäuferin im Fotoladen – und frage nach ihrer Erinnerung an den Völkermord. Und alle haben sie eine persönliche Geschichte vom Genozid zu erzählen: ein oder mehrere Familienangehörige, die im Gefängnis umkamen, ein verschwundener Sohn, die Erinnerung an eine Exekution, die langen Jahre des Hungers und der Folter in Zwangsarbeitslagern. Der kambodschanische Völkermord richtete sich im Gegensatz zu früheren oder späteren, im Unterschied zur Shoa oder zu Ruanda, nicht |28| gegen eine Religion, Ethnie oder bestimmte Gruppe. Die Kambodschaner massakrierten sich gegenseitig in einem Autogenozid. Brüder brachten Brüder um, Freunde metzelten Freunde nieder, für eine Idee, die viele von ihnen nie begriffen und bis heute nicht begreifen.
    Der Einmarsch der vietnamesischen Armee machte dem Wahnsinn Pol Pots 1978 ein Ende und markierte den Beginn einer schmerzlichen Besatzungszeit. Aus entgegengesetzten Gründen unterstützten Chinesen und Amerikaner die geflüchtete Guerillatruppe Pol Pots, zogen so den Bürgerkrieg in die Länge und hielten die Möglichkeit einer Rückkehr der Steinzeitkommunisten jahrelang offen. Vor dem Eingang der UNO in New York flatterte weiterhin die Fahne der Roten Khmer, die über den Todeslagern geweht hatte, ein politischer Zynismus, der in der Geschichte Seinesgleichen sucht. Die Westmächte fanden nichts Anstößiges daran, mit dem Teufel zu paktieren: Der Feind ihres Feindes, mochte er auch der Vollstrecker einer asiatischen Shoa gewesen sein, war ihr Freund. Erst 1991 kehrte ein – wenn auch wackeliger – Friede ein.
    Bald darauf bevölkerten 22 000 Soldaten und zivile Funktionäre der UNTAC (United Nations Transitory Authority in Cambodia) die Straßen der Hauptstadt. Die »hoch entwickelte Welt«, wo es nicht immer einfach ist, ausreichend hoch entwickelte Menschen zu finden, um diesen Titel zu rechtfertigen, eilte zur Rettung der »unterentwickelten Welt«, wo man im Gegenteil häufig Menschen und Lebensauffassungen von solch hoher Entwicklung antrifft, dass auch ihr Titel ungerechtfertigt erscheint. Die Kambodschaner konnten ihr Glück kaum fassen. All diese Leute, die so
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