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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns
Autoren: David Jimenez
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Rahmen ihrer »Hartzuschlagen«-Kampagnen gegen die Kriminalität solche kleinen Delinquenten auf und bringt sie aufs Land, wo es im Straßenbau an billigen Arbeitskräften mangelt, oder sie werden zu großen Bauprojekten abkommandiert. In eine solche Razzia geraten, wurde Man Hon zur Asphaltierung der Autobahnen des Neuen Chinas geschickt und später im Hochhausbau in Schanghai beschäftigt, dem neuen Schaufenster der Möglichkeiten, dort, wo sich die Träume jener Chinesen erfüllen, die ihr Glück nicht länger in Hongkong |296| suchen, weil nun das Festland der Ort ist, wo die neuen Erfolgsgeschichten geschrieben werden und alles möglich erscheint.
    Vielleicht also arbeitete Man Hon auf dem Bau und heuerte dann, zum Mann geworden, auf einem Handelsschiff an, auf dem er das Südchinesische Meer bereiste und, immer schweigend, zu den tausendjährigen Kulturvölkern des Fernen Ostens fuhr, die heute wieder ihren Platz unter den »wichtigen« Ländern der Welt einnehmen. Ja, vielleicht war dies Man Hons Schicksal, so wie es sich Frau Yu erträumte.
    *
    Die unermüdliche Kraft, mit der die Familie Yu noch immer nach ihrem Sohn sucht, zeugt von einem Geist, den ich so oft in Asien fand, wo man daran gewöhnt ist, Tragödien als unvermeidlichen Teil des Lebens zu betrachten. Die Menschen dieses Kontinents sind an Widrigkeiten gewachsen, sind ein ums andere Mal wieder aufgestanden, um weiter voranzustreben, immer bereit, das Wohlergehen des Einzelnen dem Kollektiv zu opfern. Dieser Geist lässt die Bewohner einer philippinischen Mülldeponie darum kämpfen, aus ihrer Abfallstadt einen menschenwürdigen Ort zu machen. Man findet ihn in der Zähigkeit des afghanischen Volkes, das dem Elend so vieler Kriege trotzt, die zu einem einzigen endlosen Krieg verschmolzen zu sein scheinen. Er inspiriert die chinesische Gesellschaft bei der Suche nach ihrem angemessenen Platz auf der Welt, und half dem Volk Osttimors, sich mutig der indonesischen Besatzung entgegenzustellen. Man findet diesen Geist auch bei den Nordkoreanern, die auf der Flucht ihr Leben riskieren. Es ist nicht zuletzt der Geist der indonesischen Studenten, die sich für die Demokratie einsetzten, den Panzern entgegentraten und vielfach dafür mit ihrem Leben bezahlten. Er treibt die Menschen eines birmanischen Stamms dazu an, die Häuser wieder aufzubauen, die von der Armee in der Nacht zuvor abgebrannt wurden. Und indische Mütter schluckten angesichts der Leichen ihrer im |297| Tsunami 2004 umgekommenen Kinder die Tränen ihres Schmerzes hinunter, so als hätten die Gefühle der Einzelnen vor der Ungeheuerlichkeit des kollektiven Schmerzes ihren Sinn eingebüßt: Wie kann man sich vom eigenen Verlust fortreißen lassen, wenn die Nachbarn so viel mehr verloren haben?
    Bei der Rückkehr von jedem dieser Orte prüfe ich mich oft selbst, beobachte meine Reaktionen und frage mich, ob es etwas von diesem Geist in mir selbst gibt. Es bleibt oft kaum Zeit, sich umzustellen, schnell verdrängen alltägliche Probleme – die Hypothek auf dem Haus, die Arbeit oder das Reiseziel des nächsten Urlaubs – die Tragödien von Menschen, die in einer Naturkatastrophe, im Krieg oder Elend alles verloren haben. Man kann in Afghanistan im Krieg frühstücken und im Überfluss Hongkongs zu Abend essen, kann in einem Flugzeug einschlafen, das aus einem kriegsverwüsteten Land abfliegt, und an einem vor Lebendigkeit sprühenden Ort aufwachen, von der denkbar größten Verzweiflung in die Trivialität eines Sonntagsbummels wechseln. Nach jeder dieser Reisen habe ich das Gefühl, dass ich alles, was ich gerade hinter mir gelassen habe, in mir wegschließen muss, aus Angst, mit meinen Erfahrungen die schöne und saubere Welt meiner Lieben zu vergiften.
    Und schweige wie Man Hon.
    Doch es tut auch gut, mich an den Mut des Mädchens mit dem rosafarbenen Kleid zurückzuerinnern, das den Lebensmut im Russenhospital in Phnom Penh hochhielt, an die menschliche Wärme der Kanalkinder in den eisigen Nächten Ulan-Bators, an die Hartnäckigkeit, mit der sich der kleine Mönch Yeshe auf die endlose Reise zum Mitgefühl mit einer oft verräterischen Welt begab, und an die Treue gegenüber ihrem verlorenen Sohn, die ich bei den Eltern von Man Hon fand. Erst bei der Rückkehr zu diesen Menschen erfahre ich etwas über mich und die Person, die sich einmal dorthin auf den Weg machte, wo der Zauber der Jahreszeiten jedes Jahr wiederkehrt und der Himmelsgott beschließt, dass manche Träume in Erfüllung
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