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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns
Autoren: David Jimenez
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Carmen in eine Hochhauswohnung im 31. Stock an der Seymour Road, von wo aus man einen spektakulären Blick über die Bucht von Hongkong hatte. Nachdem sie kräftig mitgeholfen hatte, mir meine Flitterwochen zu vermasseln, konnte mir die Zeitung eine höhere Miete schlecht versagen. Die Wohnung lag in einem der über 7 000 Wolkenkratzer Hongkongs im oberen Teil der Insel, in solcher Höhe, dass ich von meinem Arbeitszimmer den Flug der Adler beobachten konnte, die manchmal auf das Fenster zugeschossen kamen, nur um im letzten Augenblick abzudrehen und sich wieder zwischen den Wolkenkratzern zu verlieren.
    Zwei Jahre lang versuchte ich, einen dieser herrlichen Vögel in dem Augenblick festzuhalten, in dem er kurz davor schien, an der Scheibe meines Arbeitszimmers zu zerschmettern, doch immer griff ich zu spät zum Fotoapparat, oder der Adler jagte in letzter Sekunde aus dem Bildausschnitt. Schließlich gab ich das Appartement auf, ohne dass mir der Schnappschuss geglückt war, und zog, bevor ich schließlich nach Bangkok wechselte, in meine letzte Hongkonger Wohnung am chinesisch-christlichen Friedhof Pokfulam.
    So tauschte ich den Strudel der Lebenden gegen die Ruhe der Toten. Die Geburt unserer Kinder hatte alles verändert, und dieser Ort eignete sich ideal, um mit ihnen nachmittags spazieren zu gehen. Hier war immer Ricky Tam bei seiner Arbeit anzutreffen, die darin bestand, in exakt gemeißelten chinesischen Schriftzeichen die Abschiedsworte zu verewigen, die nach dem Willen der Familien die Grabsteine ihrer Toten zieren sollten. Ricky hielt uns, die
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(»ausländische Teufel«), für verrückt, denn er selbst |281| hatte ja wenigstens einen guten Grund, sich in der Nähe der Toten aufzuhalten.
    »Es ist ein ruhiger Ort in einer stressigen Stadt«, erklärte ich ihm einmal, warum mir der Friedhof so gut gefiel.
    »Ja, sehr ruhig«, stimmte er zu. »Außer, wenn sie böse werden…«
    »Wer?«, fragte ich.
    »Die Geister der Toten«, erwiderte er verschmitzt.
    Der Friedhof von Pokfulam ist die meiste Zeit des Jahres verlassen und nur spärlich besucht, mit Ausnahme besonderer Tage und Kalenderfeste, wo die Lebenden die Zahl der Toten überwiegen und man Hunderte von Hongkongern zwischen den perfekt aufgereihten und sämtlich mit einem Schwarzweißfoto des Toten versehenen Grabsteinen sieht. Die meisten Besucher kommen am neunten Tag des neunten Mondmonats, wenn die Chinesen beim Chung-Yeung-Fest ihre Toten ehren. Es gehört zur Tradition, dabei Gegenstände zu verbrennen, um sie als Geschenke den Toten ins andere Leben zu schicken.
    Es genügt, bei diesem Fest einen Rundgang über den Friedhof zu unternehmen, um der Stadt in die Seele zu schauen und sich ein weiteres Mal davon zu überzeugen, dass in keiner Kultur materielles Glück höher geschätzt wird als in der chinesischen. Die Leute verbrennen Bündel falscher Geldscheine, weil es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass das Leben im Jenseits billiger wird als hier. Sie stecken Spielzeugautos in Brand, Ferraris und Rolls-Royce, was sich von selbst versteht in einer Stadt mit mehr Luxuskarossen pro Kopf der Bevölkerung als irgendwo sonst auf der Welt. Sie zünden Modellhäuschen aller Art an, große und kleine, weil auf einer Insel mit Platzmangel wie Hongkong nichts von größerem Wert ist als der Quadratmeter. Und wenn der Sommer besonders heiß war, verbrennen die Hongkonger Reproduktionen ihrer wahren Obsession: Klimaanlagen. Wer von ihren Toten in der Hölle gelandet ist, wird es ihnen danken.
    Geld, Autos, grandiose Häuser, Klimaanlagen: Natürlich gab es |282| vor anderthalb Jahrhunderten, als Hongkong ein armes Dorf in einem vergessenen Winkel des Chinesischen Meers war, nichts von alledem. In diesem unbedeutenden Hafen fanden die Engländer einen Brückenkopf, um das chinesische Volk mit Opium zu betäuben, das die Ostindienkompanie gegen Seide, Silber, Jade, Gewürze und orientalische Schätze handelte. Der hohe kaiserliche Beamte Lin Zexu, als Sonderkommissar nach Kanton geschickt, um den Opiumgeschäften der Ausländer ein Ende zu machen, ließ 20 000 Kisten der Droge ins Meer werfen, ohne zu ahnen, dass er mit seiner Beherztheit indirekt die Tore Chinas zur Welt aufstoßen würde, nutzten die Engländer doch den Affront, um die mickrige Flotte des Landes zu versenken und nach Nanking zu marschieren. Als Beute ihres Triumphs nahmen sie sich Hongkong. Die Insel sollte für immer an London abgetreten werden, doch in der Politik wie im Leben
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