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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns
Autoren: David Jimenez
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interviewen, aber sie beharrten darauf, dass keine von ihnen die Mutter eines Kindes sei, das nach Großbritannien ausgewandert war, geschweige denn eines Gesetzesbrechers, der das großartige Vaterland im Stich gelassen hatte. Am Ortsausgang hing ein Plakat mit der Warnung: »Dein Vaterland zu verlassen ist gefährlich und illegal.« Ich verstand die Welt nicht mehr. Zweifellos handelte es sich um dieselben Menschen, die Stunden zuvor untröstlich geweint hatten, doch nun waren sie wie ausgewechselt. Als ich mich schon auf den Weg machte, flüsterte mir jemand zu: »Die Polizei war hier.«
    Die Handlanger der Diktatur hatten Cang Xa nur wenige Stunden vor meinem Eintreffen einen Besuch abgestattet und den Befehl ausgegeben, nicht mit der Presse zu sprechen und jede Nachricht über Todesfälle zu dementieren. Der Schmerz der Bewohner |274| war verschwunden, versteckt hinter der Angst vor den Behörden. Selbst Freude und Trauer waren Eigentum des Regimes, auch sie waren nicht frei. Hier zeigte sich die Macht der Diktatur auf subtile und brutale Weise. Sie war allgegenwärtig und unfehlbar. Die Partei hatte verfügt: Eure Kinder sind nicht gestorben, beweint sie nicht. Und die Menschen von Cang Xa hörten auf, ihre Kinder zu beweinen.
    Ich bin fest davon überzeugt, dass früher oder später der Tag kommt, an dem China in Freiheit lebt, und zwar nicht aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen, sondern ausschließlich aus der Gewissheit heraus, dass die Aspirationen chinesischer Journalisten dieselben sind wie meine eigenen, dass eine Mutter in Cang Xa und eine andere in Norwegen in der gleichen Weise den Tod eines Kindes betrauern, ob mit oder ohne Tränen, und dass ein Bauer aus Shanxi den Himmelsgott um dasselbe bittet wie ein anderer in Kambodscha.
    Eines nicht allzu fernen Tages wird dieser Teil der Menschheit, der noch immer ohne Freiheit lebt, keine Angst mehr haben, dass mitten in der Nacht die Polizisten vom Amt für öffentliche Sicherheit an die Tür klopfen. China wird dann die Chance erhalten, sich mit seiner Vergangenheit zu versöhnen und stolz eine Zukunft anzustreben, über die das Volk selbst entscheidet. Dann werden die Entschlossenheit und die Aufopferungsbereitschaft seiner Menschen durch die Emanzipation ihres Schöpfergeistes und ihrer Selbständigkeit vervollständigt, und Tausende von Chaojuns werden jenseits der Beschränkungen des Einheitsdenkens nach Exzellenz streben. Wenn dieser Tag kommt, und erst dann, wird China endlich Größe erlangt haben.

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    |277| Kapitel 10
Man Hon – In der Gleichgültigkeit verloren
    |279| A ls ich im Oktober 1998 als Korrespondent nach Hongkong kam, war meine erste Wohnung ein 35 Quadratmeter großes Studio in der Old Bailey Road, in der sich allabendlich die Ratten ein Stelldichein gaben. Sie lag gegenüber dem alten Victoria-Gefängnis und gewährte mir einen guten Blick auf die Gefangenen, die Mehrzahl von ihnen illegale Einwanderer, die gekommen waren, um in der »Perle Asiens« ihr Glück zu versuchen. Ich sah sie beim Training, beobachtete sie, wie sie im Kreis über ihr Unglück sprachen, und erlebte einmal mit, wie sie, wohl mehr aus Langeweile, eine kleine Meuterei gegen die Haftbedingungen anzettelten in einem Gefängnis, das kaum renoviert worden war, seit die Briten es 1841 erbaut hatten.
    Im Strudel der großen Stadt, auf allen Seiten von Restaurants, Bars und Wolkenkratzern eingekeilt, hatte das kleine Gefängnis seine liebe Not, nicht abgerissen und durch ein weiteres der vielen Geschäftszentren ersetzt zu werden. An der Außenmauer erinnerte ein Schild an die Anstaltsregeln: Nichtinsassen war es verboten, ihre Fahrzeuge vor der Gefängnismauer abzustellen; den Insassen war es untersagt, aus der Anstalt zu fliehen.
    Diese Junggesellenwohnung, in der ich mein erstes Jahr als Korrespondent verbrachte, hatte eine Garnitur Plastikbesteck, einen stets leeren Kühlschrank, ein paar alte Bettlaken, die als Fenstervorhänge dienten, einen in der Feuchtigkeit vor sich hinmodernden |280| Schreibtisch und eine Hausbar. Es war ein Rattenloch, doch für mich besaß es den ganzen Charme, den sich ein junger, lebenshungriger Reporter nur wünschen konnte. Die Zeitung hatte das Korrespondentenbüro gerade erst eröffnet und wollte die Kosten so niedrig wie möglich halten, zumindest bis meine Chefs überzeugt waren, dass sich die Investition auszahlte.
    Als ich kurz nach meiner Heirat aus Osttimor zurückkehrte, zog ich mit
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