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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns
Autoren: David Jimenez
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in einer Stadt, in der kaum noch Platz ist, kann ihm sein Quadratmeter jederzeit von einem anderen streitig gemacht werden. Neben Peter schläft ein alter Mann, Herr Tong, der die Klappe seines Käfigs nie auflässt, aus Angst, jemand könnte ihm seine Habe wegnehmen, die aus einem alten Koffer, einem Wecker und einer Tüte Zwieback besteht. Er sitzt in der Hocke, die Arme um die Fußknöchel gelegt, eine Haltung, die an einen Vogel erinnert, als hätte er sich an die trübselige Menschenvoliere angepasst, in die er geraten ist.
    »Wissen Sie«, erzählte mir Peter, »mein Rollstuhl und ich, wir sind hier nicht herausgekommen, seit man mich vor zwei Jahren hierher gebracht hat. Ich habe Angst, dass sie den Käfig jemand anderem geben, wenn ich rausgehe.«
    Der Wettlauf um den Erfolg, an dem sich heute auch das chinesische Festland beteiligt, hat Hongkong zweifellos unmenschlicher gemacht. Die Stadt ist heute ungeheuer reich. Warum kommt |285| sie mir dann nur so traurig vor? Dieses Gefühl schlägt mir schon bei meiner Ankunft auf dem Flugsteig entgegen, als ich in die Gesichter der wartenden Hongkonger schaue, und auch auf der Taxifahrt nach Hause fallen mir die bleiernen Mienen der Passanten auf, die gedankenverloren und ernst durch die Straßen der Stadt gehen, als trügen sie eine schwere Last mit sich herum.
    Wer Glück und Lebensfreude in der Stadt des Geldes erleben will, muss auf den Sonntag warten, wenn Tausende von philippinischen Haushaltshilfen ihren freien Tag haben, das Stadtzentrum stürmen und sich vergnügen, tanzen, unter freiem Himmel essen und lachen. Es ist seltsam, dass diejenigen, die sich mutmaßlich am elendesten fühlen müssten, die Glücklichsten zu sein scheinen, während jene, die offenbar alles haben, unglücklich wirken. Und die Filipinas sind wirklich nicht zu beneiden. Häufig werden sie geschlagen. Sie schlafen in winzigen Kämmerchen oder, falls keines vorhanden ist, auf dem Küchenfußboden. Sie haben alles zurückgelassen, um die Kinder anderer Leute großzuziehen, nur um zu erleben, dass die Regierung in schlechten Zeiten ihren Lohn beschneidet, der schon der geringste der Insel ist, damit die chinesischen Familien nicht auf ihre Dienerinnen verzichten müssen. Sie opfern sich, damit ihre Kinder nicht auf einer philippinischen Müllkippe namens Gelobtes Land im Abfall wühlen müssen. Und ausgerechnet sie sind in dieser grauen Stadt der Inbegriff der Freude.
    In jeder globalen Meinungsumfrage (wie unsinnig diese auch sein mögen), die nach der Zufriedenheit der Menschen fragt, schätzen sich die Philippinen mit Abstand als die glücklichsten ein, während die Hongkonger einen der letzten Plätze belegen. Elend, Ungerechtigkeit, Korruption, Kriege, an welches Übel man auch denkt, die Philippinen haben es. Keine andere Region wird außerdem so oft von Unwettern heimgesucht. Doch all dies hindert die Filipinos nicht daran, sich zu den »glücklichsten Menschen« zu rechnen. Sie helfen einander, teilen das Gute wie das Schlechte, genießen das Zusammensein mit Familie und Freunden, das Wenige |286| oder Viele, was sie haben, pflegen starke soziale Bande und brauchen nicht allzu viel, damit es ihnen gut geht. Auf der Mülldeponie Gelobtes Land kennen die Menschen das Elend, doch niemand hat je von Einsamkeit gehört.
    Die Hongkonger leben im Gegensatz dazu in ständiger Unzufriedenheit. Sie brauchen das Gefühl, am Erfolg teilzuhaben, da sind elf Tage Urlaub im Jahr genug, womöglich schon zu viel, man muss auch samstags arbeiten, darf nicht stillstehen. Im Bezirk Central muss man zum Einkauf nicht erst auf die Straße gehen, die meisten Einkaufszentren sind über Passagen zwischen den Gebäuden erreichbar. Wo es keine Geschäfte gibt, sind die Bürgersteige schmal, wenn es überhaupt welche gibt. Wer möchte schon an einem Ort ohne Geschäfte spazieren gehen? Auf einer Reise in Bhutan traf ich zwei Hongkonger Sony-Techniker, die hier beim Aufbau des ersten Fernsehsenders im Land halfen. Wir standen am Bahnhof und hatten einen herrlichen Ausblick auf das Thimphu-Tal, eine der schönsten Landschaften der Welt. Einer von ihnen atmete tief durch, und ich erwartete schon seinen Kommentar zu dieser Pracht. Doch stattdessen vernahm ich ein langes Gähnen und hörte ihn sagen: »Ich halte es hier keinen Tag länger aus. Es gibt kein einziges Einkaufszentrum.«
    In Hongkong bist du, was du kaufen kannst. Was zählt, ist nicht, ob das Gekaufte nützlich ist oder ob man es braucht, sondern
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