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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns
Autoren: David Jimenez
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Formel lautete, mit der Deng Xiaoping der britischen Premierministerin Margaret Thatcher garantierte, dass China das Hongkonger |289| System respektieren würde, wenn die Kolonie wieder an die Volksrepublik fiele.
    *
    Der autistische Junge steigt in der Station Lo Wu aus und folgt der Menge, die Richtung Grenze geht. Die Grenzer der Volksrepublik verwehren ihm den Durchgang und schicken ihn, überzeugt, dass er aus Hongkong stammt, zurück. Die Grenzer des Hongkonger Systems glauben dagegen, einen chinesischen Immigranten vor sich zu haben, legen ihm Handschellen an, vernehmen ihn stundenlang und schicken ihn, da sie im Schweigen des Jungen die Bestätigung ihres Verdachts erblicken, schließlich abermals zur rotchinesischen Seite zurück. Man Hon ist in ein und demselben Land zwischen zwei Systemen gefangen.
    »Du willst also nicht reden«, mag der Diensthabende sagen. »Du hast Glück, denn anders als da drüben zwingen wir hier niemand zum Reden. Dort herrscht ein anderes System, verstehst du?«
    Man Hon ist im Niemandsland, hungrig und verzweifelt, unfähig, allein den Weg nach Hause zurückzufinden oder jemandem zu erzählen, was passiert ist. Niemand weiß mit Sicherheit, was ab diesem Zeitpunkt geschah, doch auf die eine oder andere Weise muss es ihm gelungen sein, die Grenze nach Shenzhen zum Festland zu überqueren. Auch diese Stadt war, wie Hongkong, einst ein kleines Fischerdorf und hat es, in der gleichen Weise wie die Schwesterstadt am anderen Ufer, geschafft, sich in eine ultramoderne Konsummetropole zu verwandeln, ein Gebirge aus Wolkenkratzern und großen Geschäftszentren.
    Wie durch eine Nabelschnur sind die beiden Städte heute verbunden. Die Hongkonger Geschäftsleute haben in der Nachbarstadt einen idealen Ort gefunden, um die alte chinesische Tradition der Konkubinen wiederzubeleben. In der Ortschaft Heung Biling sind die Wohnungen und Schönheitssalons in Bahnhofsnähe für junge Damen bestimmt, die von Hongkongern mittleren Alters, häufig Familienväter |290| , ausgehalten werden. Wenn die Kinder aus solchen außerehelichen Liebschaften das Recht beanspruchen, in Hongkong, der Heimat ihrer Väter, zu leben, stellen sie ein System auf die Probe, das von Fachleuten für Geopolitik, Verwaltungsexperten und Politikern haarklein ersonnen wurde, ohne den menschlichen Schwächen Rechnung zu zollen. Zu welchem System gehören diese Kinder nun?
    Einige Tage nach seinem Verschwinden wird die Behandlung Man Hons durch die Hongkonger Grenzposten, aufgedeckt von der Presse, zu einem enormen Skandal. In Shenzhen beginnt eine Großfahndung nach dem Jungen. Über 7 000 Polizisten durchkämmen die Stadt nach ihm, überall werden Plakate mit dem Foto des autistischen Kinds aufgehängt und die Bevölkerung um Hilfe gebeten. Seine Mutter hat den Text eigenhändig verfasst:

    Junge aus Hongkong vermisst

    Name: Man Hon. Größe: 1,68 Meter.
    Der Junge hat vorstehende Zähne und ist geistig behindert. Er hat einen Tick: Er pocht mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand gegen seine linke. Er ist im August 2000 verschwunden und befindet sich auf dem chinesischen Festland. Wahrscheinlich ist er jetzt magerer als auf dem Foto, womöglich wirkt seine Kleidung abgerissen, oder er ist unbekleidet. Wer sachdienliche Hinweise zu seinem Aufenthaltsort geben kann …

    Für die Familie Yu, die in einer winzigen Wohnung in einem der Wohnkomplexe mit Hunderten von Wohneinheiten lebt, die sich im Hongkonger Stadtteil Lok Fu bis zum Horizont erstrecken und menschlichen Bienenkörben gleichen, wird das Warten unerträglich. Frau Yu beschließt, nach Shenzhen zu fahren, um persönlich bei der Suche nach ihrem Sohn zu helfen. Nur wenige Stunden, nachdem sie ihr Hotelzimmer bezogen hat, klopft ein Mann an ihre Zimmertür. »Ich habe Neuigkeiten von Ihrem Sohn. Es ist alles vergeblich. Kehren Sie nach Hongkong zurück, ersparen Sie sich den Schmerz und suchen Sie nicht weiter. Man Hon ist tot«, behauptet er.
    |291| Der Fremde erzählt Frau Yu, dass die Polizei Man Hon, der in Shenzhen umherstreifte, aufgegriffen, in Gewahrsam genommen und zu Tode gefoltert hatte, weil der Junge nicht mehr verraten wollte als seinen Namen. Genau wie ihre Kollegen in Hongkong dachten die Beamten, dass der Junge etwas zu verbergen haben musste, wenn er nicht sprach. Die Polizei schlug ihn stundenlang. In den Morgenstunden des folgenden Tags sei Man Hon bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert worden, wo er binnen weniger Stunden gestorben sei. Die
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