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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns
Autoren: David Jimenez
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Hause finden sollte, den Grenzposten Lo Wu überquerten? Gab es denn nicht einen unter ihnen, der stehen blieb, um dem verlorenen Jungen zu helfen? Aber nein, dies ist das Land der Möglichkeiten, hier wartet niemand, alles muss schnell gehen, die Mahlzeiten, die Geschäfte, die Hochzeiten. 15 Minuten, und der Standesbeamte ruft das nächste Brautpaar herein. Ankommen ist das Wichtigste; wo, das spielt keine Rolle: Hauptsache es geht voran, Hauptsache es geht weiter, Hauptsache, man kommt irgendwo hin.
    Hongkong hat gelernt, nur nach vorn zu blicken. Die Erinnerung an Man Hon ist mit den Jahren verblasst. Die Presse erinnert nur noch an den Jahrestagen seines Verschwindens an das autistische Kind. Es kommen ein paar Journalisten, sie stellen einige Fragen und veröffentlichen eine Meldung mit dem Titel: »Man Hons Mutter weint weiter um ihren Sohn.« Den Rest des Jahres über verschwendet niemand mehr einen Gedanken auf ihn. Als sich sein Verschwinden zum siebenten Mal jährt, erklären die Behörden Yus Sohn offiziell für tot.
    |294| »Glauben Sie etwa, das spielt für mich eine Rolle?«, fragt seine Mutter mit dem letzten Foto Man Hons in der Hand, aufgenommen am Tag vor seinem Verschwinden. »Ist mein Sohn vielleicht tot, weil es auf einem Stück Papier steht? Ich weiß, dass er dort irgendwo ist. Man hat mir gesagt, dass die Traurigkeit mit der Zeit langsam vergeht, aber je mehr Zeit verstreicht, desto mehr fehlt er mir, desto lebendiger ist die Erinnerung an ihn und desto stärker das Bedürfnis, ihn zu finden.«
    Man Hon lebt weiter, zumindest in der Wohnung der Familie Yu. Das Bett ist gemacht, die Bettwäsche sauber, und ein Schlafanzug liegt zusammengefaltet auf dem Kopfkissen, als wäre mit seiner Rückkehr noch am selben Abend zu rechnen. Auf der Tagesdecke liegt ein rotes Kuvert, ein Glücksbringer. Für das stets abergläubige chinesische Volk kann das Los das Schicksal eines Menschen bestimmen. Alles kann sich zum Guten oder Schlechten wenden dank einer glücklichen oder unglücklichen Zahlenkombination, der korrekten oder falschen Ausrichtung des Hauses. Daher bezahlen die Millionäre der Insel ein Vermögen, um sich eine Glückszahl als Autonummer zu reservieren, und niemandem fällt es ein, ein Hochhaus zu errichten, ohne vorher einen Feng-Shui-Experten bestimmen zu lassen, wie die universelle Energie am besten genutzt und alle Räume in Harmonie gebracht werden können, um die bösen Geister abzuwehren. Geburten werden vorgezogen, damit sie in ein günstiges Jahr fallen, Hochzeiten in ein späteres, gedeihlicheres Jahr verlegt, um eine frühe Verwitwung zu vermeiden.
    Die Chinesen glauben an das Schicksal, etwas, was mich persönlich immer schockiert hat, weil es so ein großer Widerspruch ist: auf der einen Seite die ungeheure Fähigkeit der Chinesen zu hoher Anstrengung und ihr beharrliches Hinarbeiten auf die Verwirklichung der eigenen Ziele, auf der anderen die Überzeugung, dass sich die Zukunft letzten Endes nach der Position des Mondes richtet. Kann etwa ein roter Umschlag auf einem Bett bewirken, was eine jahrelange Suche nicht vermochte, kann er Man Hon zurück nach Hause bringen? Hatte nicht vielleicht doch jener mysteriöse |295| Mann, der Wai Ling in einem Hotel in Shenzhen besuchte, die Wahrheit gesagt – dass alle Anstrengungen umsonst waren?
    Oder war alles so geschehen, wie es seiner Mutter so oft in ihren Träumen erschienen war?
    *
    Vielleicht fand an jenem Abend, als die letzten Hongkonger über die Grenze nach Hause zurückkehrten, tatsächlich ein Immigrationsbeamter Man Hon unter einem der Restauranttische auf der zweiten Etage der Metrostation und brachte ihn zu seinen Vorgesetzten. In China spielt die Hierarchie eine wichtige Rolle, niemand fällt eine Entscheidung, ohne den Nächsthöheren zu fragen, der die Sache wiederum seinem eigenen Vorgesetzten vorträgt und so weiter.
    »Noch immer hier?«, hätte der diensthabende Beamte gefragt. »Wenn du jetzt redest, geben wir dir was zu essen. Woher kommst du? Wer bist du? Wo sind deine Eltern?«
    Der Beamte sehnte sich nach seinem Feierabend. Zunehmend entnervt, ordnete er an, Man Hon durchzulassen, um Verzögerungen beim Schichtwechsel zu vermeiden. Der Junge passierte die Grenze, streifte, einmal in Shenzhen, umher, aß die Reste von Restaurants und lebte von der Mildtätigkeit der wohlhabend gewordenen Festlandschinesen, bis ihn eine Bande von Straßenkindern bei sich aufnahm.
    Jedes Jahr greift die Pekinger Regierung im
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