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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns
Autoren: David Jimenez
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Polizisten, die Repressalien fürchteten, hätten daraufhin die Einäscherung der Leiche befohlen und so die Beweise ihrer Misshandlung verschwinden lassen. »Kehren Sie nach Hongkong zurück«, insistierte der Mann, bevor er sich verabschiedete. »Mehr kann ich Ihnen nicht verraten, auch nicht meinen Namen. Das würde mich in eine schwierige Lage bringen. Ich bin nur gekommen, um Ihnen die Wahrheit zu sagen.«
    Yu Lai Wai Ling weigert sich, die Geschichte dieses mysteriösen Manns zu glauben. Sie kehrt nach Hongkong zurück und organisiert von dort aus die unmögliche Suche nach Man Hon in einem Land mit 1,3 Milliarden Einwohnern auf einem Territorium, das 15-mal so groß wie Spanien ist. In den folgenden Jahren reist sie kreuz und quer durch China, notiert Hinweise, studiert Karten und spricht mit Hunderten von Beamten und Polizisten in den abgelegensten Städten. Zeugen melden sich, die Man Hon bei Hirten in der Inneren Mongolei, auf einem Pritschenwagen Richtung Westen, im Zug nach Peking und sogar in Tibet gesehen haben wollen. Manche sagen, er sei Opfer eines Organschieberrings geworden, andere, er habe sich in Shenzhen einer Bande Krimineller angeschlossen, wieder andere, er sei drogenabhängig geworden und ziehe durch die Elendsviertel der Stadt Kanton.
    Ab und zu meldet sich jemand, der die Situation ausnutzen will, um Informationen gegen Geld anzubieten. Wai Ling geht immer zu diesen Verabredungen mit Unbekannten, ohne einen Widerspruch darin zu erblicken, dass sie die Version des Fremden im Hotel in Shenzhen rundweg von der Hand gewiesen hatte, während |292| sie nun die verrücktesten Geschichten glaubt, dass Man Hon noch am Leben sei.
    *
    Über vier Jahre sind seit dem Verschwinden ihres Sohns vergangen, aber Frau Yu sucht mit einer Entschlossenheit weiter, wie sie nur der Liebe einer Mutter entspringen kann. Sie ist durch 18 chinesische Provinzen gereist und in über hundert Städten und Dörfern gewesen. Sie ist eine zierliche, zerbrechliche Person, deren Augen ihre Verzweiflung und Schuldgefühle verraten. Hätte nicht alles anders kommen können, wenn sie ihrem Sohn in der Station Yau Ma Tei etwas schneller hinterhergerannt wäre? Bevor der Zug ihn mit sich fortnahm? Wenn er doch nur früher mit seinem dummen Spiel aufgehört hätte…
    Mit den Jahren hat sich die Wohnung der Familie Yu Woche für Woche mit der Abwesenheit des Sohnes gefüllt. Die Wohnung gleicht dem Büro eines Privatdetektivs. An der Hauptwand des Wohnzimmers hängt eine Karte von China, auf der Frau Yu die Städte einträgt, in denen sie gewesen ist, in die sie noch reisen muss und in die sie, nur für den Fall, zurückkehren will. Auf ihrem Nachttisch geht sie vor dem Schlafengehen noch einmal den Notizblock und ein Büchlein mit den wichtigen Kontaktadressen aller chinesischen Städte durch. Sie hat Namen und Telefonnummern der Polizeichefs des halben Landes.
    »Ein sehr großes Land«, sagt sie und weist auf die Karte. »Ein wirklich großes Land.«
    Auf dem Wohnzimmertisch liegen Dutzende von Alben mit Fotos von Hunderten von Kindern, die in chinesischen Städten ausgesetzt wurden. Die meisten dieser Kinder sind schmutzig, ihr Blick ist verloren, ihre Kleidung zerrissen, doch sie haben überlebt. »Obwohl es mich traurig macht, sie so zu sehen, sind sie meine Hoffnung«, gesteht Frau Yu, »weil sie auf der Straße überleben konnten. Warum nicht auch Man Hon?«
    |293| Ab und zu ruft ein Polizist aus irgendeinem Landesteil an, um ihr mitzuteilen, dass ein Kind aufgegriffen wurde, das Man Hon ähnlich sieht. Dann eilt Wai Ling zu ihm, platzt in irgendein Kommissariat und findet sich unversehens vor einem weiteren ausgesetzten Kind wieder, das nicht ihres ist. Bevor sie gesenkten Kopfes die Heimreise antritt, um auf den nächsten Anruf zu warten, sucht Frau Yu die Bahnhöfe und Einkaufszentren der Stadt ab und hängt Suchzettel auf, die in Wahrheit Briefe ohne Adressaten sind, denn ihr Sohn könnte sie niemals lesen, auch wenn sie sich das einbildet. »Man Hon, wo bist du? Mama vermisst dich sehr. Komm bald nach Hause.«
    Drei weitere Male kommt und geht der Monsun, dann legen die Behörden den Fall Man Hon zu den Akten, zahlen der Familie eine Entschädigung und ergreifen disziplinarische Maßnahmen gegen die Beamten, die den Jungen an der Grenze falsch einschätzten und auf das chinesische Festland schickten. Und was ist mit den über 200 000 Personen, die an jenem Tag, als Man Hon weinte, weil er nicht wusste, wie er nach
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