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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns
Autoren: David Jimenez
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gibt es kein »für immer«. Als ich am 1. Oktober 1998 in Hongkong landete, um dort als Asienkorrespondent meine Arbeit aufzunehmen, feierten Tausende in den patriotischsten Tönen den Nationalfeiertag Rotchinas, das ein Jahr zuvor die Souveränität über die britische Kolonie wiedererlangt hatte.
    Betrachtet man das wohl spektakulärste Stadtbild der Welt mit den erleuchteten Wolkenkratzern der Bezirke Central, Admiralty und Wanchai, die sich eindrucksvoll über dem »Dufthafen« erheben, lässt sich nur schwer ein besseres Geschäft denken als jenes zwischen Deng Xiaoping und dem Vereinigten Königreich. Peking hatte an die Engländer einen unbedeutenden, halb verlassenen Felsen abgetreten und erhielt das New York des Ostens zurück, die Stadt der Träume und des Geldes, einen der wenigen Orte auf der Welt, wo man morgens ohne einen Heller aufwachen und abends als Millionär einschlafen kann. Oder umgekehrt.
    Die schlanken, lang gestreckten Hochhäuser, diese gewaltigen Symbole der Macht und des Geldes, die so dicht gedrängt stehen, dass man manchmal glaubt, vom Fenster aus den Tower gegenüber berühren zu können, schießen an den ungewöhnlichsten Stellen in den Himmel. Die Mischung aus Orient und Okzident, die |283| alten, einsturzgefährdeten, von Wolkenkratzern aus Kristall umzingelten chinesischen Häuser, die Suppendampfwolken, die aus den Restaurants entweichen, die traditionellen Schuhmacher, die in derselben Straße arbeiten wie die Krawatte tragenden Manager, die chaotischen Viertel und die dunklen, schmutzigen Gassen, der Baulärm und das geordnete Chaos der Massen von Menschen, die sich auf der Queens Road gegenseitig über den Haufen rennen, die Summe der vielen Hässlichkeiten, all dies macht aus Hongkong eine hinreißend schöne, einzigartige Stadt.
    Für unzählige Chinesen, die zuerst vor der japanischen Besatzung und dann vor der irrwitzigen Politik der Volksrepublik Reißaus nahmen, war die Stadt lange Zeit eine Oase inmitten einer Wüste der Barbarei – freilich eine mit verschlossenen Toren, ein verbotener Traum. Tausende flüchteten auf Booten hierher oder überquerten die Grenze bei Lo Wu. Die Flüchtlinge drängten sich anfänglich in Armenvierteln, doch mit der Zeit baute der Staat für sie Wohnungen, und der Geschäftssinn der Chinesen, einmal von den Fesseln des Kommunismus befreit, tat ein Übriges.
    Der größte Teil der Bevölkerung von Hongkong besteht heute aus drei Generationen dieser Einwanderer. Unter ihnen begann ein Wettlauf um Erfolg, bei dem es nicht nur Sieger gab. Abgehärtet durch Platzmangel, brutale Konkurrenz und schwierige Lebensbedingungen schworen sich die Neuhongkonger, niemals zurückzublicken. Die Stadt wurde nach und nach immer geschäftstüchtiger, wohlhabender und effizienter, und büßte dafür Menschlichkeit ein. Sie wurde ein Paradies für Unternehmer, aber ein brutal hartes Pflaster für die Schwachen – eine moderne Version der natürlichen Auswahl der Arten.
    Einige hatten Glück, wie Li Ka Shing, der mit zwölf Jahren nach Hongkong kam und heute eines der größten Vermögen der Welt besitzt. Es ist unmöglich, in Hongkong zu leben und kein Geld auf Lis Konto einzuzahlen. Wer in einen Supermarkt geht, hat eine Chance von 50 Prozent, dass er zur Kette der Familie Li gehört, wer telefoniert, verschafft der Familie Li mit jeder Minute bares Geld, |284| wer das Licht anknipst, erhält vom Stromversorger der Lis dafür die Rechnung, und wer ein Haus kauft, sorgt mit seinen Hypothekenzinsen sehr wahrscheinlich dafür, dass die Lis noch reicher werden.
    Andere hatten weniger Glück, wie Peter Zheung, der mit zwanzig Jahren nach Hongkong kam und heute bettelarm ist. Ich lernte ihn kurz nach meiner Ankunft in Hongkong kennen. Er hatte seinen Job als Kellner verloren, als nach einem Brand sein Bein amputiert werden musste. Mittellos und ohne Broterwerb, gefangen in einer Gesellschaft, die keine Zeit hat, sich um diejenigen zu kümmern, die auf der Strecke bleiben, mietete er sich schließlich einen Platz im 3. Stock der Fuk-Tsun-Straße Nr. 24. In der Wohnung stapeln sich auf drei Etagen kleine, enge, identische Käfige, die wenig mehr als einen Meter hoch und anderthalb Meter lang sind. Ihr Boden ist mit Pappe ausgelegt, die Front mit einem Eisengitter und einem Vorhängeschloss gesichert.
    Peter ist einer der vielen »Käfigmenschen« geworden, die sich in Hongkong jede Nacht in ihre Verschläge kauern und dankbar dafür sind, einen eigenen zu haben, denn
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