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Ketchuprote Wolken

Ketchuprote Wolken

Titel: Ketchuprote Wolken
Autoren: Annabel Pitcher
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kam auch nach vorn, ließ sich am anderen Ende des Tischs nieder und rückte das Besteck an seinem Platz zurecht.
    Das Mikro gab einen schrillen Laut von sich, als Sandra sprechen wollte, und sie fuhr zurück. Ihre Notizblätter zitterten in ihrer Hand. Sie wartete einen Moment und unternahm dann den nächsten Versuch. Sagte, wie schön es sei, dass wir alle gekommen seien, um Max’ Leben zu würdigen. Aaron starrte auf seinen Löffel. Sandra sagte, es sei für uns alle ein schwieriges Jahr gewesen. Ich starrte auch auf meinen Löffel. Dann sagte sie, Max sei nicht mehr da, aber unvergessen, und er sei ein wunderbarer Sohn, ein großartiger Bruder, ein zauberhafter Freund gewesen – und da schaute ich Aaron an, Stu, und er mich, und die Traurigkeit, die ich tief in mir empfand, stand ihm im Gesicht geschrieben.
    »Und nun bitte ich Max’ Freundin ans Mikrofon«, sagte Sandra. Einige Leute wechselten mitleidige Blicke. Dann waren aller Augen auf mich gerichtet. Bis auf die zwei einzigen Augen, die mir wichtig waren.
    Aaron blickte auf seine Serviette.
    Ich rührte mich nicht von der Stelle.
    Fiona stieß mich in die Rippen.
    Ich bewegte mich noch immer nicht.
    »Du bist dran«, bedeutete mir Sandra stumm.
    Mein Stuhl rutschte nach hinten. Meine Absätze klackten auf dem Boden. Langsam zog ich das Gedicht aus der Tasche. Dein Gedicht, Stu. Das du in der letzten Woche deines Lebens geschrieben hast.
    Loslassen .
    Mein Magen zog sich zusammen, und ich wusste, dass es dir in Texas genauso erging. Ich trat ans Mikrofon und entfaltete das Blatt Papier. Mit deinen Worten. Der Knoten in meinem Bauch zog sich noch enger zusammen, und die Verbindung zwischen uns fühlte sich qualvoll eng und schmerzhaft an, Stu, doch sie war etwas, woran man sich festhalten konnte, so verlässlich wie ein dickes Seil.
    Wir sind bereit.
    Wir sind tapfer.
    Wir haben unser Schicksal akzeptiert.
    Als ich zu lesen begann, war meine Stimme erstaunlich ruhig, und die Worte hörten sich klar und deutlich an. Ich richtete mich auf, sprach noch etwas lauter. Dieses Gedicht trug ich nicht für Max oder Sandra oder jemand anders in diesem Raum vor. Nicht einmal für Aaron. Sondern nur für dich, Stu, und für mich selbst – für unsere Geschichten und unsere Fehler und dein Ende und vielleicht sogar für meinen Neuanfang.
    Die Feier war ein Erfolg, auch wenn das Essen kalt geworden war. Vor dem Ausgang wurde ich umringt von Leuten, die mir alle sagen wollten, wie beeindruckt sie von meiner Lesung waren.
    »Ich habe Max gefühlt«, sagte jemand und legte die Hand aufs Herz. »Hier drin.«
    »Habt ihr gesehen, wie am Ende die Kerzen geflackert haben? Das war er.«
    »Bei der ersten Strophe habe ich den Heizkörper knacken hören. Das war bestimmt auch Max.«
    Mum reichte mir meine Jacke und brachte mich nach draußen, weg von den vielen Leuten. Kurz vor dem Auto, in dem Dad und meine Schwestern warteten, spürte ich eine Hand, die meine berührte. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, zu wem sie gehörte.
    »Willst du weg von hier, Vogelmädchen?«
    Ich sagte Mum, ich ginge noch zu Lauren. Ich weiß nicht, ob sie mir glaubte, aber sie stellte keine Fragen, sondern umarmte mich nur kurz und schrie dann Dot zu, sie solle besser aufpassen, weil die so wild mit ihrer Flagge wedelte, dass sie fast einem alten Herrn ins Auge gestochen hätte.
    DOR1S schnurrte, als freue sie sich über unsere Rückkehr. Wir sprachen nicht, sondern fuhren nur aus der Stadt raus aufs Land, und als wir eine perfekte Stelle unter ein paar Bäumen entdeckten, warfen wir uns einen Blick zu, und Aaron hielt an. Wir wussten beide, dass nichts zwischen uns sein konnte, aber Aaron breitete seine Jacke aus, und wir setzten uns darauf und sahen gemeinsam zu, wie die Sonne unterging. Die Schwalben waren von ihren Abenteuern zurückgekehrt und flatterten zum roten Himmel hinauf, und Aaron und ich hielten uns unter den ketchuproten Wolken in den Armen und wünschten uns, dass die Zeit stillstehen und die Welt uns für eine Weile vergessen würde.
    Viel mehr gibt es nicht zu erzählen. Aaron setzte mich am China-Imbiss ab, und unsere Tränen glitzerten grün, während der Drache stumm seinen Protest hinauszubrüllen schien.
    »Bis irgendwann, Vogelmädchen«, flüsterte Aaron.
    »Ja. Bis irgendwann.« Ein Leben ohne ihn erschien mir unendlich leer.
    Ich ging nicht sofort nach Hause, sondern zum Fluss, zum ersten Mal seit Max’ Tod. Mondlicht schimmerte auf dem Wasser, als ich die ins
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