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Ketchuprote Wolken

Ketchuprote Wolken

Titel: Ketchuprote Wolken
Autoren: Annabel Pitcher
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zu, in dem es nach Fotokopien, Sandwiches, Kaffee roch. Ich saß auf einem harten Stuhl und wiederholte immer wieder Aarons Worte. Max ist ausgerutscht. Er war betrunken. Er ist ausgerutscht. Er war betrunken. Irgendwann glaubte der Polizist mir wohl, denn er sagte, ich könne nach Hause gehen.
    Aber ein Zuhause gab es für mich nicht mehr. Nur ein Haus, das ich nicht mehr erkannte, mit einer Familie, die mir wie wildfremde Menschen vorkamen. Mein Zimmer war nicht mein Zimmer und mein Bett nicht mein Bett, weil ich nicht ich war. Sondern eine fremde Person, die meine Eltern nicht kannten. Eine Betrügerin. Lügnerin. Mörderin. Ich lag unter meiner Decke, die nach einem Leben roch, das es für mich nicht mehr gab, und betrachtete blinzelnd meine Hände.
    Am nächsten Morgen ließ Mum ein Bad für mich ein und schüttete ein Salz ins Wasser, das gegen Traumata helfen sollte. Ich hatte noch nie um zehn Uhr morgens ein Bad genommen, und es fühlte sich seltsam an. Es war zu hell im Badezimmer. Die Sonne schien durchs Fenster, Stäubchen wirbelten über dem Wäschekorb herum. Aus dem Wasserhahn tropfte heißes Wasser, und ich steckte den großen Zeh in die Öffnung, spürte aber das Brennen nicht.
    Am Nachmittag kam Dad in mein Zimmer.
    »Die Mutter des Jungen hat gefragt, ob du nicht zu ihnen kommen willst, Schatz. Sandra heißt sie, glaube ich.«
    Ich fing an zu zählen.
    Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.
    »Der Rest von Max’ Familie ist auch dort«, fuhr Dad fort und setzte sich auf den Bettrand. »Ich glaube, es wäre wichtig, dass du dabei bist.«
    Sechs. Sieben. Acht.
    »Hörst du mir zu, Schatz?
    »Ja.«
    »Was meinst du?«
    »Wozu?«
    Dad schaute mich besorgt an und nahm meine Hand. »Zu dem Besuch bei Max’ Familie. Ich komme auch mit, wenn du möchtest. Es würde dir vielleicht guttun, mit anderen Menschen zusammen zu sein.«
    Neun. Zehn. Elf.
    »Na gut. Ich überlasse es dir«, sagte Dad und stand auf, während ich reglos an die Decke starrte.
    Später beobachtete ich durchs Fenster, wie ein Nachbar seinen Rasen mähte und sechs Stauden pflanzte.
    Ich beobachtete, wie ein Mann gegenüber die Fenster und die Haustür seines Hauses anstrich.
    Ich beobachtete, wie ein Hund die Straße entlangtappte und mit einem Stock im Maul zurückkehrte.
    Am nächsten Morgen kam Mum in mein Zimmer und sagte, ich hätte Fieber, meine Mandeln seien geschwollen, und ich solle den Mund aufmachen, und sie leuchtete mit einer Taschenlampe hinein, während ich »Aaaaaaaaaaah!« sagte. Dann schaltete sie die Taschenlampe aus und sagte, ich könne aufhören, aber es ging nicht. Ich sagte immer lauter
    aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh
    hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh
    hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh
    hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh
    »Ist Zoe verrückt geworden?«, gebärdete Dot.
    Ich klappte den Mund zu.
    »Nein«, antwortete Mum. »Es geht ihr nur nicht gut.«
    Dot betrachtete mich argwöhnisch. »Ich mach so was nicht, wenn es mir nicht gut geht.«
    »Es geht ihr richtig schlimm schlecht«, erklärte Mum. »So schlecht ist es dir noch nie gegangen.«
    »Wegen des Freundes?«
    »Ja.«
    »Ich wusste nicht, dass sie so was hatte«, gebärdete Dot.
    »Ich auch nicht, Schätzchen. Nicht wirklich. Aber ich weiß, dass er sie glücklich gemacht hat.« Mum streichelte meine Stirn. Aarons Name brannte auf meinen Lippen, und meine Wangen wurden noch heißer, und in diesem Moment, Stu, wünschte ich mir, dass Mum mich nach meinen Gefühlen gefragt hätte. Aber sie strich mir nur mit dem Daumen über die Augenbraue und murmelte: »Sie hat richtig gestrahlt, als ich sie von der Bücherei abgeholt habe.«
    »Warum ist er ertrunken?«, fragte Dot.
    Mum warf einen Blick auf mich und antwortete dann: »Ich weiß es nicht.«
    »Warum ist er denn untergegangen, wenn er schwimmen konnte? Und ich hab noch eine Frage.«
    »Das reicht für heute.«
    »Darf ich auch von der Schule zu Hause bleiben?«
    Die nächsten Tage verliefen genauso. Mum brachte mir Essen. Dad brachte mir zahllose Becher mit Tee. Als Dot am nächsten Tag nachmittags aus der Schule kam, standen sechs Becher auf meinem Nachttisch, alle unterschiedlich voll, und ich spielte mit einem Bleistift eine Melodie darauf.
    »Wann ist die Beerdigung, und darf ich auch mit?«, gebärdete Dot. Ich schloss die Augen, damit ich sie nicht mehr sehen musste, aber sie zog meine Lider hoch und wiederholte: »Ich hab gesagt, wann
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