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Ketchuprote Wolken

Ketchuprote Wolken

Titel: Ketchuprote Wolken
Autoren: Annabel Pitcher
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Schulter, um zu erfahren, was sich bei der Gedenkfeier am 1. Mai ereignet hat.
    Ich habe dann in letzter Sekunde doch noch etwas gefunden, das sich perfekt zum Vorlesen eignete. Den ganzen Tag bin ich in meinem Zimmer auf und ab gewandert und habe den Text geübt und mich dabei gefragt, ob Aaron bei der Feier auftauchen würde oder ob er noch irgendwo in Südamerika am Strand saß und an seine Mutter, seinen Bruder, den Regen, die verschwindende Hand dachte. Sandra hatte mir gesagt, er wolle versuchen zu kommen, aber sie glaubte nicht so recht daran und ich auch nicht.
    »Das ist ein weiter Weg«, hatte sie vor einigen Tagen gesagt. »Der Flug ist sehr teuer.«
    Natürlich dachte ich an diesem Tag nicht nur an Aaron. Sondern auch an dich, Stu. Wie du in deiner Zelle sitzt und wartest und dir wünschst, es hinter dir zu haben. Du bist bereit, mutig, hast dein Schicksal akzeptiert. Ich wusste, dass die Hinrichtung um sechs Uhr abends sein sollte, was in England Mitternacht ist. In York, falls du dich das fragst. In der Fulstone Avenue, nicht in der Fiction Road. Ich brauche das jetzt wohl nicht mehr geheim zu halten.
    Die Gedenkfeier sollte auch um 18.00 Uhr beginnen. Ich habe mir die Zeit vertrieben, indem ich mir mit Dot Gesetze für Amerika ausdachte, und es wird dich sicher freuen, Stu, dass wir die Todesstrafe abgeschafft und beschlossen haben, dass es in Gefängnissen Weihnachtsdeko geben soll und Wachen, die ihre Pizza teilen, und schöne große Fenster, durch die man die ganze Sonne sehen kann.
    »Geht’s dir gut, Schatz?«, fragte Dad, als ich schließlich in meinem schwarzen Kleid die Treppe herunterkam.
    »Natürlich nicht«, antwortete Mum statt meiner. »Aber es wird ihr bald wieder gut gehen.« Ihr Blick war entschlossen und gab mir Kraft. Dot kam aus der Garderobe gesaust. Ihr Gesicht war fast völlig verdeckt von einem schwarzen Hut.
    »Du musst jetzt nicht alle schwarzen Sachen anziehen, die du hast«, gebärdete Dad und öffnete die Tür.
    »Aber ich durfte letztes Jahr nicht mit zu dieser Beerdigung«, erwiderte Dot und strich ihren schwarzen Rock glatt. Sie trug auch schwarze Handschuhe. »Deshalb will ich jetzt toll aussehen.«
    »Zieh wenigstens den Schal aus«, gebärdete Mum.
    »Und die Augenklappe«, fügte Soph hinzu und zog das Ding von Dots Gesicht.
    Die Aula war brechend voll. Die Kleiderständer bogen sich förmlich unter all den schwarzen Jacken, und überall sah man bleiche Gesichter über schwarzer Kleidung. Das Schwarze Brett war mit Fotos von Max gepflastert, und in der Mitte hing das Bild von uns dreien beim Frühlingsfest. Wenn man es genau betrachtete, konnte man die Wahrheit erkennen. Ich stand zwar zwischen den Brüdern, war aber leicht zu Aaron geneigt, und seine Knöchel sahen weiß aus, weil er meine Hüfte so fest umfasste.
    Lauren trug knallrosa Lippenstift und leuchtete regelrecht inmitten der ganzen tristen Farblosigkeit.
    »Wie geht’s dir?«, fragte sie.
    »Nicht gut.«
    »Mir auch nicht«, murmelte sie. »Fünfzehn Piepen für das Ganze. Die Beerdigung war wenigstens umsonst.«
    Eine Frau, die in ihrer langen schwarzen Strickjacke an eine Krähe erinnerte und ein Taschentuch umklammerte, obwohl ihre Augen trocken waren, sprach uns an.
    »Du bist Max’ Freundin, nicht wahr?«, fragte sie mich mit zittriger Stimme.
    Ich wollte nicken, aber Lauren sagte: »Nein. Max ist tot. Sie heißt Alice. Alice Jones.« Das ist nämlich mein echter Name.
    Die Frau blickte schockiert und hastete davon, um sich einen Sitzplatz zu suchen. Man hatte so viele Tische aufgestellt, dass sie sogar zur Tür hinausreichten, und vorn auf der Bühne stand ein besonders langer Tisch neben einem Mikrofon. Mir stockte der Atem, als ich es sah, und ich tastete mit schweißnassen Händen nach dem Text in meiner Tasche.
    Es war schon fast Zeit für meinen Auftritt. Mein Mund war wie ausgetrocknet, als ich durch die Aula ging, und da sah ich ihn.
    Er stand mitten im Raum, als sei er nie weg gewesen, und ich starrte ihn wie gebannt an. Seine Haare waren länger, und seine Haut glänzte sonnenbraun, aber an seinem Lächeln hatte sich nichts verändert. Trotz allem, was geschehen war, spielte es um seine Lippen, als ich zum Gruß die Hand hob.
    »Er ist doch gekommen«, sagte Sandra direkt an meinem Ohr, und ich zuckte erschrocken zusammen. »Heute früh, als Überraschung.«
    Ich ging nach vorn auf die Bühne, und es kam mir vor, als fliege ich. Dann setzte ich mich ans eine Ende des langen Tischs. Aaron
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