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Ketchuprote Wolken

Ketchuprote Wolken

Titel: Ketchuprote Wolken
Autoren: Annabel Pitcher
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englische Präsidentin von Amerika werden und den Krieg verbieten und ein Gesetz erlassen, dass jeder kostenlos Bananeneis bekommt. Sie kletterte auf den Klavierhocker und legte die Hand aufs Herz, als lausche sie der amerikanischen Nationalhymne.
    Mum sah ihr dabei zu. Dann öffnete sie den Mund, als wolle sie sprechen, und schloss ihn wieder. Zögerte eine Weile und sagte dann schließlich:
    »Ich möchte dir etwas sagen, Zoe.«
    »Aber ich wollte doch spazieren …«
    »Es ist meine Schuld.«
    »Was ist deine Schuld?«
    Mum zeigte auf Dot, die ihre Fahne schwenkte. »Ihr Gehör.«
    »Dass sie taub ist? Aber … ich dachte immer … Ist sie nicht so auf die Welt gekommen? Das habt ihr doch immer gesagt.«
    Mum schüttelte den Kopf und blickte auf ihre Knie. »Die Schwangerschaft war nicht gewollt.«
    » Mum . Erspar mir bitte die Einzelheiten.«
    »Ich wollte sie nicht«, fuhr Mum fort, ohne Luft zu holen oder mich anzusehen. »Ich war mit zwei Töchtern zufrieden, aber dein Vater hat mich überredet. Und dein Großvater hat mich auch unter Druck gesetzt.« Ich setzte mich auf den Boden, neben Mums Füße. »Dein Dad hatte ihm erzählt, dass ich überlegt hatte, das Baby wegmachen zu lassen.«
    »Eine Abtreibung?« Mum legte den Finger an die Lippen und wurde rot, obwohl Dot nichts hören konnte.
    »Weil dein Großvater ja so religiös ist, kam das nicht gut an. Die beiden haben sich gegen mich verbündet. Deine Großmutter war kurz zuvor gestorben, und sie haben mir gesagt, es wäre doch so schön, neues Leben in der Familie zu haben. Ein Baby. Sie haben mich richtig unter Druck gesetzt.«
    »Hast du deshalb … ich meine, in deinem Schmuckkasten sind diese ganzen Erinnerungsstücke von mir und Soph, aber nichts von Dot.«
    Mum zuckte traurig die Achseln und umklammerte ihren Teebecher. »Ich hatte Mühe, sie anzunehmen. Habe sie vielleicht sogar ein bisschen abgelehnt, wenn ich ganz ehrlich bin. Ich konnte es kaum erwarten, wieder zu arbeiten.« Dot sprang von dem Hocker, und die Fahne wehte hinter ihr her wie ein Cape. »Eines Tages, als sie erst ein paar Monate alt war, hatte sie morgens Fieber. Ich war genervt, weil ich einen Termin mit einem wichtigen Mandanten hatte, und sagte mir, es sei bestimmt nichts Schlimmes.« Mum flüsterte jetzt nur noch und schluckte schwer. Ich nahm ihre Hand. »Ich hab sie dem Kindermädchen überlassen, und in der Kanzlei habe ich mein Handy ausgestellt, damit ich mich konzentrieren konnte. Meine Sekretärin musste mir dann sagen, dass Dot ins Krankenhaus gebracht worden war. Erinnerst du dich noch?«
    Ich nickte langsam. »Aber nur an Bruchstücke. Ein winziges Bett. Viele Schläuche. Ich wusste damals nicht, was sie eigentlich hatte. Du hast es uns nie gesagt.«
    Mum hielt den Becher an ihre Lippen, trank aber nicht. »Hirnhautentzündung. Die Ärzte haben es geschafft, ihr Leben zu retten. Aber nicht ihr Gehör.«
    Dot rannte, die Flagge schwenkend, aus dem Zimmer. Wir sahen ihr beide nach.
    »Ich habe mir lange die Schuld daran gegeben«, fuhr Mum fort. »Sehr lange. Und dein Großvater auch. Das hat er damals zu mir gesagt, im Eifer des Gefechts. Dass ich eine schlechte Mutter sei, weil ich Dot zuerst nicht haben wollte und sie dann im Stich gelassen habe, als sie krank war. Ich konnte ihm das nicht verzeihen, obwohl mein Zorn natürlich in Wirklichkeit nicht gegen ihn gerichtet war.« Sie sah mich an, und ihr Blick war so eindringlich, dass ich rot wurde, Stu. »Solche Schuldgefühle – sie zerstören Menschen. Man muss eine Möglichkeit finden, sie loszulassen.« Mum schaute mit bedeutungsvollem Blick durchs Fenster auf den Schuppen draußen, und ich musste plötzlich an die Mütze, den Schal, die Decke, den Gartenstuhl denken. »Was es auch ist, man muss es loslassen. Das ist schwer, Zoe. Aber man muss sich selbst vergeben.«
    Mum trank weiter ihren Tee, als ich aufstand. Aber im Flur wandte ich mich nicht zur Haustür, sondern ging in die Küche. Zog den Brief aus meiner Hosentasche und warf ihn in den Mülleimer.
    Dieser Brief hier ist jetzt ein wenig anders, Stu. Zum einen schreibe ich nicht im Schuppen. Ich sitze an meinem Schreibtisch in meinem Zimmer, und es ist heller Tag, nicht dunkle Nacht. Ich weiß, dass du diesen Brief niemals lesen wirst – das ist nicht mehr möglich –, aber ich wollte dir dennoch etwas erzählen. Wer weiß, vielleicht gibt es eben doch Geister, und du schwebst hier durchsichtig durch die Luft und schaust mir beim Schreiben über die
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