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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen
Autoren: Simone Keil
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werden sie forttragen und in den Abfluss werfen, zusammen mit Brot und Wurst und Butter. Wiederwiederwieder. Immer wieder.
     
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    Hinter meiner Stirn schmieden Zwerge ihre Schwerter neu. Glühende Funken und Hämmern. Die Zahlen meines Weckers bewegen sich träge. Endloses Starren, bis aus der Zwei eine Drei wird, aus der Drei eine Vier. Würden sie doch aufhören zu hämmern, dann könnte ich es beschleunigen. Aber ich kann nicht. Nicht jetzt. Sie haben aufgehört zu streiten. Vor fünf langen Minuten. Wenigstens etwas. Wenn das Singen aus den Schatten doch auch endlich verstummen würde.
    Heute werde ich es schaffen. Heute werde ich den Fünfuhrfünfzehnzug erreichen. Heute? Jemand lacht. Das bin ich. Mein Lachen klingt fremd und hohl und fern. Als käme es direkt aus den Schatten. Und dann sehe ich mich auf dem Bett sitzen, die Beine angewinkelt, den Kopf auf den Knien. Eine zusammengesunkene Gestalt inmitten des Lichtkegels. Und ich lache und lache, bis die Bremsen tief in meinem Magen quietschen und das Lachen in meinem Gesicht zu einer Grimasse erstarrt. Mein Körper wird durchscheinend, wie eine Spiegelung auf der Oberfläche eines Tümpels. Ich kann mich nicht erreichen. Der Lichtkegel hält mich fern von mir. Das Hämmern vermischt sich mit dem Bremsenquietschen. Und Dampf und Zischen und etwas, das wie ein Schrei klingt. Aber ich kann mich nicht mehr hören. Die Wellen verwischen das Bild. Wer hat den Stein ins Wasser geworfen? Warst du das? Du warst es. Ich weiß, dass du es warst.
    Setz dich, sagt er. Setz dich und nimm das Messer mit. Die Räder drehen sich nicht ohne Treibstoff. Aber zuerst leer deine Taschen aus.

Dr. Stein
    Überwachungskamera 16, im Verbindungsflur zwischen Schlafsaal C und den Untersuchungsräumen, zeigt nur noch verschwommene Bilder, als müsste sie dichten Nebel durchdringen, aber es scheint keine Funktionsstörung vorzuliegen. Alle Instrumente arbeiten tadellos. Und doch ist der Gang nur noch als heller, wabernder Fleck zu erkennen.
    Ich habe die Konturen eines Albs erkannt. Das ist unmöglich. Ich sehe die Aufzeichnung wieder und wieder an. Bei Minute 17 breitet er die Flügel aus. Sein massiger Rücken verdeckt die Sicht auf den Strahler über der automatischen Tür und wirft einen Schatten auf die Kamera. Auch das ist unmöglich. Auch das ist die Wahrheit. Trotzdem werde ich das Gesehene persönlich überprüfen. Ich nehme den Camcorder mit. Es ist 15.10 Uhr.
    15.50 Uhr. Die Sichtüberprüfung hat zu keinem Ergebnis geführt und auch der Camcorder hat die Gänge und Räume glockenklar aufgezeichnet. Kamera 16 zeigt immer noch Nebel. Was hat das zu bedeuten?
    Ich bin nicht verrückt. Ich weiß, was ich sehe, höre, schmecke, rieche. Meine Kollegen wussten es auch. Deshalb haben sie das Testgelände verlassen, das Experiment für gescheitert erklärt, die Aufzeichnungen vernichtet, die Existenzen dieser Kinder mit einem Knopfdruck ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben. Nur ich kann noch dokumentieren, was hier vor sich geht. Ich muss meine Sinne beieinander halten.
    Ich kann die Albe sehen, ich kann die andere Seite sehen, seit etwa zwölf Tagen. Ich bin sicher, dass ein MRT die Vergrößerung meiner Zirbeldrüse bestätigen würde. Völlig unklar ist, wie die Mutation ohne entsprechende Medikamente hervorgerufen werden konnte.
    Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass auch einer oder mehrere meiner Kollegen betroffen sind. Somit war der Abbruch des Experiments und die Isolierung der Station völlig sinnlos. Ich sehe Prof. Ruben auf dem Boden des Krankenhauses sitzen, den Rücken an die Wand gelehnt, in der Hand einen zappelnden Alb. Und langsam stülpt sich die Realität um und die andere Seite nimmt sich mehr und mehr Raum. Genau wie hier drinnen. Genauso hat es der Junge einmal beschrieben und genau so wird es sein. Es spielt also keine Rolle mehr, ob diese Albe nach draußen gelangen, andere könnten es längst sein.
    18.30 Uhr. Ich musste Arme und Beine des Jungen fixieren. Unkontrollierte Zuckungen. Die Verletzungsgefahr war zu hoch. Jetzt liegt er still, seine Atemfrequenz ist nur noch leicht erhöht, der Puls bei 130 Schlägen pro Minute. Für dieses Stadium normale Werte. Soweit man in Anbetracht der schlechten Testbedingungen von Normalität reden kann.
    Ich könnte Überwachungskamera 16 durch eine andere ersetzen. Warum habe ich vorhin nicht daran gedacht? Ich werde nachlässig. Ich muss mich besser konzentrieren. Das würde nichts an den Tatsachen ändern, aber
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