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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen
Autoren: Simone Keil
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stülpen wie ein riesiger schwarzer Sack und alles absorbieren. Und die Strahler werden jeden Winkel ausleuchten. Kein Platz mehr zum Verstecken. Kein einziger Platz. Tick-tack – die Zeit, Tock-tack …
    Ich darf nicht einschlafen. Wenn ich gehen will, dann jetzt. Fünfuhrvierzehn. Ich kann das Kreischen der Bremsen in meinem Magen spüren. Und die Bremsfunken an der Bauchdecke.

Dr. Stein
    Die Stimmen der Albe heulen wie Wind durch die große Halle und die Gänge im Untergeschoss, durchdringen selbst die dicken Betonmauern und die Eisentür. Um 10.45 Uhr habe ich mich aus dem Bunker gewagt, um noch Lebensmittel und Wasser zu holen. Es dauert länger als ich dachte. Die Vorräte sollten noch für zwei Wochen ausreichen. Lange genug.
    Er ist maximal noch eine Stunde täglich wach. Die restliche Zeit verbringt er im REM-Schlaf. Das EEG zeichnet Gamma-Wellen auf, selbst wenn er sich in einer Tiefschlafphase befinden sollte.
    Zwischen 15.30 Uhr und 16.00 Uhr hat er im Schlaf gesprochen. Seine Stimme klang, als müsste sie einen langen Weg zurücklegen und die Worte, die aus seinem Mund kamen, waren kaum mehr verständlich – als hätten Wind und Wetter sie ausgedünnt und ihnen den Sinn entrissen.
    Für solche pathetischen Formulierungen hätte Prof. Ruben mich aus dem Hörsaal geworfen. Ich höre seine näselnde Stimme, als stünde er direkt neben mir. Fakten. Fakten sind das einzig Relevante. Tja, Professor, Sie haben sich aus dem Staub gemacht, als das Schiff zu sinken begann, somit sind Sie faktisch nicht mehr vorhanden und irrelevant.
    Ich verstand nicht viel von dem, was der Junge sagte, das meiste waren zusammenhanglose Silben, aber eines wiederholte sich wie ein Mantra: Ich habe sie fallen lassen.
    Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, dass das nicht stimmt. Ich war es, die sie fallen ließ, genau wie ich ihn fallen lassen werde, wenn es soweit ist.
    Sechs Tage bin ich jetzt mit ihm allein, eingeschlossen und von der Außenwelt abgeschlossen, aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Das Ticken der Wanduhr wird lauter und lauter und dröhnt in meinen Ohren, aber ich will sie nicht abstellen, sie erinnert mich daran, dass die Zeit existiert. Und solange ich daran glaube, wird sie auch weiter existieren.
    Glauben. Erstaunlich, wie schwer es mir immer noch fällt, zu glauben. Ich habe in die Augen der Albe geblickt, ich habe den Wind gespürt, den ihre Flügel durch die Gänge peitschen, ich höre ihr unmenschliches Jaulen, genau in diesem Augenblick. Und doch fällt es mir schwer, meinen Sinnen zu trauen. Ich darf jetzt nicht zweifeln. Nicht an mir und nicht an der Wahrheit. Nur noch wenige Tage – vielleicht nur Stunden.

 
     
    Look at me, I'm a train, I'm a track, I'm a train, I'm a train
    I'm a ticket-train, yeah.
    Look at me, got a load on my back, I'm a train, I'm a train,
    I'm a ticket-train, yeah.
    Look at me, I'm goin' somewhere, I'm a train, I'm a train,
    I'm a ticket-train, yeah...
     
    (Albert Hammond: I’m a train)

Erin
    Tuff, Tuff, Tuff, die Eisenbahn, singt er, wer will mit nach Hause fahrn? Alleine fahren mag ich nicht –
    Halts Maul. Halt dein verdammtes Maul!
    Hast du geglaubt, es wäre so einfach?, fragt er und lacht. Hast du das wirklich geglaubt?
    Ja, das habe ich. Nein, sage ich, nein und nochmal nein.
    Hast du dir schon ein Holzscheit ausgesucht?, fragt er. Sie warten. Er huscht über meine Beine und ein Schaudern huscht über meine Unterarme. Ich kann meine Hände nicht bewegen, sie sind zu Fäusten versteinert. In meiner Kehle klebt ein Pfropfen – vom Gaumenzäpfchen bis zum Mageneingang. Es stinkt. Alles stinkt nach ihm und Angst und Alben. Ihre Flügel schlagen tief im Holz. Ich spüre ihre Erwartung und seine spüre ich auch. Er ist ungeduldig. Nervös. Ich habe die Bremsen gehört, so nah, ich hätte es schaffen können und er weiß das.
    Ich könnte dir helfen, sagt er, klopft mit dem Hintern auf meinen Oberschenkel.
    Ich brauche dich nicht, sage ich.
    Nein, sagt er und macht es sich in einer Falte meiner Jeans bequem. Ich bleibe einfach hier liegen und wir warten auf morgen.
    Das Holz zappelt in meiner Hand. Der Alb hat einen dicken Kugelbauch und Katzenaugen. Warst du das?, frage ich. Hast du das getan?
    Könnte ich denn so etwas?, fragt er und gibt einen Laut von sich, der wohl ein Gähnen sein soll.
    Nein. Ich habe es genommen. Meine Hände, mein Messer. Mein Alb. Wie viele noch? Mechanisch legt das Messer die Konturen frei. Wie viele Albe hast du schon eingesponnen?,
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