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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen
Autoren: Simone Keil
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Nemesis
    Purpurner Sand rieselt durch die Finsternis. Dekade um Dekade. Wie oft mag sich meines Vaters Sanduhr gedreht haben? Wie viel Zeit mag im Boden des Sandmeeres versickert sein? Das spielt keine Rolle mehr. Wir schreiben das Jahr eins, den Anfang.
    Die Jahre des Wartens sind vorüber, ebenso die des Ertragens und Duldens. Ich habe gespürt, wie meine Brüder zerbrochen sind unter der Last unsagbaren Schmerzes. Und niemand war bei ihnen, um ihren Seelen den Weg zurück zu den purpurnen Bergen unseres Ursprungs zu weisen. Für immer verloren in den Schatten. Verloren, aber nicht vergessen. Noch kann ich nicht um sie trauern. Ich bin so voller Zorn. Er brodelt in meinen Eingeweiden und ich möchte ihn über den Welten ausspucken wie faules Fleisch.
    Menschen. Wie es mich vor ihnen ekelt. Sie sollen leiden, wie mein Volk gelitten hat. Ich will die Angst in ihren Augen sehen, bevor ich sie mit meinen Krallen herausreiße und in Góras geiferndes Maul schleudere. Sie sollen blind durch die Ewigkeit irren, unfähig, den Weg zurück in die Länder ihrer Väter zu finden.
    Ihr Hochmut hat sie durch all die Zeiten nicht zu Fall gebracht. Aber sie werden fallen. Tiefer, als irgendein Lebewesen es für möglich halten könnte. Niemand soll ihre Namen mehr sprechen, niemand soll ihrer gedenken. Ihre Zeit ist vorüber, zum letzten Mal dreht sich das Stundenglas für sie und die ihren.
    Sie haben sich vermehrt wie Mäuse. Und mäusegleich haben sie alles mit ihren Exkrementen verunreinigt. Die Wasser stinken und die Luft schmeckt nach Unrat. Ich kann kaum atmen. Kein Fleckchen Land, kein Winkel, der verschont geblieben wäre.
    Wenn ich sie in den Gassen ihrer übelriechenden Siedlungen umher huschen sehe, möchte ich hinabstürzen und sie von der Erde fegen. Ich will Feuer sein und Sturm, Beben und Welle. Und ich will das letzte sein, was sie blicken.
    Ich muss mich gedulden, muss meinen Zorn bändigen wie Szandor einst Góra bändigte, sie in Ketten legte und zu seiner tödlichsten Verbündeten machte. Góra, Wächterin der Tiefen und Abertiefen. Bald schon wird dein Hunger gestillt werden. Nähre dich von ihrer Furcht, denn das wird alles sein, was sie empfinden werden. Grenzenlose Furcht.
    Unsere Zahl hat sich verringert. So wenige sind übrig geblieben. Aber wir sind zahlreicher, als sie es zu hoffen gewagt haben mögen, als sie uns ins Schattenreich verbannten, und wir werden von Stunde zu Stunde zahlreicher.
    Dekaden des Wartens, eingeschlossen in Holz und Stein und kalte Schatten, und doch bin ich nicht zerbrochen. Ich bin stärker als je zuvor. Der Zorn ist mit mir und den meinen. Süßes Brennen.
    Wir drehen die Räder, genau wie es uns bestimmt ist, wir lenken die Zeit und der Wind ist unser Verbündeter, wie der grenzenlose Hochmut der Menschen. Sie haben uns vergessen, unser Andenken aus ihren Legenden getilgt. Sie sind blind und einfältig; sie haben verlernt, ihren Instinkten zu trauen; sie haben verlernt, nach oben zu blicken, bevor sie sich aus ihren Häusern wagen.
    Nun ist die Zeit gekommen, die Lüfte mit Schwingenschlag zu erfüllen. Es ist Sturmzeit.

Dr. Stein
    Er atmet flach. Die Wolldecke hebt und senkt sich über seinem Brustkorb. Um sein Gesicht zu erkennen, muss ich die Augen zusammenkneifen in der Dämmerung. Im Licht der Strahler ist er kaum mehr zu sehen. Ich gehe davon aus, dass er heute Nacht den Wechsel auf die andere Seite vollenden wird. Wechseln oder sterben, das sind seine Optionen. Es ist zu spät, ihn zurückzuholen. Und ich würde es auch nicht tun, selbst wenn ich es könnte. Aber diese Option steht nicht zur Auswahl, die Medikamente wirken nicht in diese Richtung.
    Kein einziges der Kinder konnte zurückgeholt werden. Kein einziges von sechsundachtzig. Sechsundachtzig Leben. Ausgeknipst wie Taschenlampen.
    Als Kind fürchtete ich die Dunkelheit. Die Geräusche, die aus den Schatten zu kommen schienen. Aber es ist nicht die Dunkelheit, die es zu fürchten gilt. Die Furcht lauert im Licht. Proband 42 wusste es. Ich konnte es in seinen Augen lesen, wenn er ins Licht sah. Erin. Jetzt kann ich ihn bei seinem Namen nennen. Er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut und Gefühlen. Wir hatten kein Recht, ihm seinen Namen zu nehmen. Kein Recht und keinen Grund, außer unserer unglaublichen Arroganz.
    Einige Fragen sind immer noch offen. Aber ich werde nicht diejenige sein, die sie stellt. Manche Fragen sollten nicht gestellt werden und manche Antworten sollte man nicht kennen.
    Wissenschaft und
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