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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen
Autoren: Simone Keil
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sieht.
    Ich packe einen Gnom am Kragen und nehme ihm den Diamanten ab, klaube die restlichen von der Arbeitsplatte und dem Fliesenboden. Ich stoße an ihre Beine. Wasch dir die Hände, sagt sie, und setz dich.
    Keinen Hunger, sage ich und stecke die Diamanten in die Hosentasche.
    Setz dich, sagt sie noch einmal.
    Ich gehe lieber in mein Zimmer, sage ich und schnipse den Gnom in die Spüle. Er wirft ein Stück Butter nach mir. Sie atmet.
    Schon auf der ersten Treppenstufe kann ich sie streiten hören. Ich halte den Alb fest in der Hand, seine spitzen Flügel bohren sich in meine Handfläche. Alles deine Schuld, sagt sie. Seine Schuld, meine Schuld, niemals ihre. Morgen werden sie mich fortbringen. Wie immer. Wir haben alles versucht, aber wir werden nicht mehr fertig mit dir, wird sie sagen, und zentnerweise Strasssteine in ihr frisch gebügeltes Taschentuch schniefen. Und dann packe ich meinen Rucksack und sie nehmen mir das Holz und das Messer ab. Aber das kann ich nicht zulassen.
     
    #
    Du bist zurück, sagt er.
    Ja, sage ich, ich bin zurück.
    Ich spüre seine gierigen Blicke, als ich meine Faust öffne und ihm den Alb auf der offenen Handfläche entgegenstrecke. Nimm mich mit, sage ich. Jetzt. Du bekommst den Alb.
    Den bekomme ich, sagt er. So oder so.
    Ich könnte ihn kaputtmachen, sage ich.
    Das könntest du, sagt er. Natürlich.
    Natürlich nicht. Und das weiß er sehr gut. Was willst du noch?, frage ich. Geld?
    Er lacht. Nimm die Augenbinde ab, sagt er.
    Nein!
    Sie werden dich fortbringen, sagt er. Nicht wahr? Weg von hier, das wolltest du doch.
    Du weißt, was ich will, sage ich. Er klopft mit dem Hinterteil auf den Boden und ich weiß, was er will.
    Stell den Alb in das unterste Regal, sagt er und wartet.
    Ich muss ihn auf die Flügel legen, sonst kippt er immer wieder um. Dem nächsten werde ich eine festere Standfläche machen.
    Willst du einen neuen schnitzen?, fragt er. Vielleicht diesmal einen größeren?
    Nein, das will ich nicht. Nicht noch größer. Ja, sage ich und setze mich auf den Boden, den Rücken an die unverputzte Wand gelehnt. Ich taste nach einem passenden Stück Holz, erfühle das Gesicht, die Flügel, die Beine. Die Angst. Perfekt! Das Messer liegt kühl und schwer in meiner Hand, aber bald wird die Klinge wärmer werden. Das ist ein gutes Gefühl.
    Bist du soweit?, fragt er und fängt an, ohne meine Antwort abzuwarten. Erregt und schnell. Klebrig. Ich schnitze weiter. Span für Span fällt in meinen Schoß, bis er sich zu meinen Armen vorgearbeitet hat. Du nimmst mir nicht die Augenbinde, sage ich. Nicht die Augenbinde! Und dann spüre ich ihn an meinem Hals und atme durch die Nase. Er nimmt mich mit. Weg. Weg von hier.

Dr. Stein
    In seinen Augen ist Erkennen aufgeflackert. Um 23.20 Uhr. Er hat meine Hand genommen und sich aufgesetzt. Er hat die Lippen bewegt, war aber zu schwach zum Reden. Ich wusste auch so, was er sagen wollte. Warum. Ich konnte nur den Kopf schütteln, aber da war er schon wieder in die Kissen zurückgesunken.
    Warum folgen wir nicht unseren Instinkten? Warum müssen wir für alles Gründe und Beweise suchen? Warum können wir nicht das Offensichtliche anerkennen? Warum. Weil wir Menschen sind. Einen besseren Grund könnte ich ihm nicht nennen.
    Wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich ein Gesicht, das nicht meines ist. Falten, die vor einem Jahr noch nicht existierten. Alles, woran ich geglaubt habe, hat sich als falsch erwiesen. Alles, was ich war – was ich zu sein glaubte – ist nur noch ein riesiger Irrtum. Ohne Sinn und Zweck. Ich bin es, die sich aufgelöst hat. Nichts, was mir wichtig schien, hat noch bestand. Es ist, als wäre ich nicht mehr vorhanden. Und das ist auch gut so. Niemand, der so viel Leid gebracht hat, sollte existieren. Aber ich bin hier. Warum bin ich immer noch hier?
    Er hustet und krümmt sich seit einer halben Stunde, ich muss die Medikamentation erhöhen, aber ich werde noch etwas warten, es könnte ihn töten.
    Ich bin ein Feigling. Ich habe ihn schon vor Monaten getötet und jetzt zögere ich. Warum bin ich dann nicht mit Prof. Ruben und Sokolow gegangen, bevor sie die Eingänge versiegelt haben? Warum habe ich ihn und das Mädchen nicht ihrem Schicksal überlassen? Ethik, Gewissen? Hätte ich ein Gewissen gehabt, dann hätte ich die Formel vernichtet, bevor sie irgendjemand zu Gesicht bekam. Aber das tat ich nicht.
    1.10 Uhr. Ich habe die Dosis auf das Dreifache dessen erhöht, was tödlich sein sollte. Er schläft, unterbrochen von
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